Knast statt Seniorenheim: Japans Haftanstalten füllen sich mit Alten

(c) REUTERS (STAFF)
  • Drucken

In der fernöstlichen Industrienation steigt die Verbrechensrate unter älteren Menschen. Besonders grotesk: Wegen Armut und Einsamkeit gehen viele japanische Senioren freiwillig hinter Gitter.

„Ich möchte nur ein warmes Abendessen und Menschen, mit denen ich reden kann.“ Dieser verständliche Wunsch brachte einen 66-Jährigen aus Tokio ausgerechnet ins Gefängnis. Oder, richtiger gesagt: Deswegen wollte er unbedingt dorthin. Denn so befremdlich es anmutet: Ältere Japaner legen sich neuerdings auffällig oft mit dem Gesetz an – und zwar, um hinter Gitter zu kommen. In Japan spricht man bereits von einer „grauen Welle der Kriminalität“.

„Das Gefängnis ist der Himmel, die Freiheit die Hölle“. Mit diesem seltsamen Statement versucht das Magazin „Shukan Shincho“, das verstörende Phänomen salopp zu erklären. Unter dem Titel „Glückliches Leben im Knast“ fragt der Autor, was wohl schlimmer sein könne als der Entzug der Freiheit. Seine Antwort ist simpel: „Der Entzug der grundlegenden materiellen Bedürfnisse wie Essen, Kleidung und Wohnung.“

Eine Erfolgsgesellschaft kennt keine Hilfe

Viele ältere Japaner leiden unter der ökonomischen Stagnation, haben keinen Job und kaum Pension. Auf Hilfe können sie in der auf Erfolg getrimmten Gesellschaft nicht zählen. Das einst dichte Netz der Familie ist gerissen, da die Jungen vom Land in die Großstädte ziehen. Viele Not leidende Senioren sehen keine andere Alternative als den Knast: Seit Ende des Wirtschaftswunders vor 20 Jahren steigt der Altersschnitt der Häftlinge enorm, während die Kriminalität absolut abnimmt: Demnach ermittelte die Polizei 2011 gegen mehr als 48.000 Bürger, die älter als 65 waren; ihr Anteil an Vorverfahren stieg auf 16 Prozent. 1998 waren es 13.700. Besonders auffällig sind die alten Erstverurteilten in den Gefängnissen: Überraschend viele davon haben eine gute Ausbildung, manche hatten beachtliche Karrieren.

Viele Medien bieten Erklärungsversuche. „Der wesentliche Grund ist nicht nur die alternde Gesellschaft“, befindet die „Japan Times“ – die Zahl der über 65-Jährigen lag 2011 bei 30 Millionen (rund 23 Prozent des Volkes). Aber die Alterskriminalität wachse überproportional, und nicht nur das: Die Senioren werden zunehmend brutal. Während 70 Prozent ihrer Delikte unter Rubriken wie Diebstahl und Sachbeschädigung fallen, gibt es einen massiven Anstieg von Gewalt, Körperverletzung und Mord.

Auf der Suche nach Liebe

Für viele sei das Phänomen eine Geldfrage, sagt Tomomi Fujiwara, Autor des Buches „Bousou Rojin“ („Die Älteren außer Kontrolle“). Viele, wenn nicht die meisten, litten jedoch auch unter Liebesentzug: „Früher wurden Ältere verehrt und gepflegt, lebten mit Kindern und Enkeln im Haus.“ Das habe sich geändert. Viele Senioren litten nun unter Einsamkeit und mangelnder Beachtung. Manche versuchen fast verzweifelt, in den Knast zu kommen. Das ist aber nicht so leicht. Auf kleinere Delikte wie Ladendiebstahl stehen ja Geld- oder Bewährungsstrafen.
Wie stellt es also ein unbescholtener Pensionist an, der bloß ein Dach über dem Kopf sucht? Ein Magazin listete Methoden auf. Etwa: „Sie schlendern ohne Geld in ein Restaurant (wenn es nahe einer Polizeistation liegt, umso besser), bestellen Essen und ein oder zwei Bier – und begehen Zechprellerei.“ Beim ersten Mal klappt das meist noch nicht, aber beim zweiten, ganz sicher beim dritten Mal erhält der Delinquent als Wiederholungstäter die gewünschte Haft.

Man empfiehlt auch lange Taxifahrten, etwa von Tokio ins 200 Kilometer entfernte Nagano. Die Rechnung von umgerechnet über 1000 Euro kann natürlich nicht bezahlt werden. Nagano ist überhaupt oft Ziel krimineller Alter, denn die Stadt soll das beliebteste Gefängnis Japans haben, so das Magazin „Shukan Shincho“. „Dort gibt es gutes Essen und mit dem Ex-Börsen-Tycoon Takafumi Horie den berühmtesten Häftling des Landes.“ Der unkonventionelle 40-jährige Jungunternehmer, der wie ein Popstar behandelt wird, sitzt wegen Bilanzfälschung zweieinhalb Jahre ab. Der einst pummelige Lebemann hat durch leichte Kost und Abstinenz nicht nur 30 Kilogramm abgespeckt, er ist für alte Insassen sogar als Pfleger tätig. Noch ein Grund für Senioren, in den Knast zu gehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.01.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.