Ägypten: "Muslimbrüder wollen Zeit gewinnen"

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Die Demonstranten in Kairo drohten, vor den Sitz des Präsidenten zu ziehen. Der Politikwissenschaftler Mustafa el-Labbad warnt vor dem Ende des Arabischen Frühlings.

Kairo. Tausende Demonstranten gingen auch am Freitag in mehreren ägyptischen Städten auf die Straße, um gegen Präsident Mohammed Mursi zu protestieren. In Kairo versammelten sich Hunderte auf dem Tahrir-Platz. Sie kündigten an, vor den Präsidentenpalast zu ziehen. Die Demonstranten werfen Mursi, der aus der islamistischen Muslimbruderschaft stammt, vor, die Ziele der Revolution von 2011 verraten zu haben. Damals kämpften Linke, Liberale und Islamisten gemeinsam für den Sturz des Machthabers Hosni Mubarak. Mittlerweile ist diese Allianz zerbrochen, Linke und Liberale werfen Mursi vor, ein neues autoritäres System errichten zu wollen.

Der Politikwissenschaftler Mustafa el-Labbad, Chef des Thinktanks „Al-Sharq-Zentrum für regionale and strategische Studien“ in Kairo, warnt im Gespräch mit der „Presse“ davor, dass sich die Krise in Ägypten weiter verschärfen könnte.

Die Presse: Steht der Staat Ägypten am Rand des Kollaps, wie Armeechef General Abdel Fattah al-Sisi diese Woche gewarnt hat?

Mustafa el-Labbad: General al-Sisi hat recht. Die Übergangsperiode in Ägypten in den vergangenen beiden Jahren ist katastrophal verlaufen. Es fehlt ein nationaler Konsens, die Wirtschaft und die staatlichen Institutionen haben sehr gelitten. Wir erleben den Versuch der Muslimbruderschaft, die Macht komplett an sich zu reißen. Viele Ägypter haben das Gefühl, dass sie solche Zustände mit ihrer Revolution vor zwei Jahren nicht erreichen wollten. Die Menschen glauben, dass Mohammed Mursi nur als Vertreter der Muslimbrüder im Präsidentenpalast sitzt und nicht als Repräsentant aller Ägypter. Deswegen haben die Demonstranten kein Vertrauen mehr in die Institutionen. Deswegen erleben wir eine Wut, die sich gegen alle Einrichtungen des Staates richtet.

Was muss getan werden, um die Lage zu stabilisieren?

Es wurde eine Dynamik in Gang gesetzt, von der immer mehr Teile Ägyptens betroffen sind: Wer hätte vor einer Woche gedacht, dass es so weit kommen könnte wie jetzt in Port Said, Suez und auch in Kairo? Was wir brauchen, ist eine Regierung der nationalen Einheit, eine Kommission zur Revision der Verfassung und einen Konsens über das künftige Wahlrecht. Je länger das verschoben wird, desto schlimmer wird die Lage.

Wie groß sind die Chancen für einen Kompromiss?

In der Substanz gibt es keine echte Bereitschaft zu verhandeln. Die Muslimbruderschaft redet zwar von Dialog, will aber nur Zeit gewinnen. Sie weigert sich, der Opposition substanzielle Garantien zu geben oder eine klare Verhandlungsagenda zu nennen. Wenn die Opposition einem solchen nationalen Gespräch zustimmt, werden nur Kameras aufgestellt und Fotos gemacht, aber es kommt nichts dabei heraus. Und danach wird dieselbe Politik einfach weiterbetrieben, als hätte es nie irgendwelche Treffen gegeben.

Geht der Arabische Frühling in Ägypten zu Ende?

Die momentane Krise ist nicht das Ende der Geschichte Ägyptens. Wenn sich die Situation aber nicht in absehbarer Zeit bessert, ist das das Ende des Arabische Frühlings. Tunesien und Libyen sind im Vergleich zu Ägypten geopolitisch von geringerem Gewicht, in Syrien herrscht Bürgerkrieg.

In Ägyptens Staatsbudget klaffen riesige Löcher, die Subventionen für Brot, Benzin und Strom müssen drastisch gekürzt werden. Drohen in diesem Jahr soziale Unruhen?

Ich hoffe nicht, aber ich fürchte, es wird so kommen. Die Währung verliert rapide an Wert gegenüber dem Dollar. Ägypten importiert einen großen Teil der Lebensmittel, die für die Bevölkerung nun von Woche zu Woche teurer werden. Viele Leute haben nicht mehr genug Geld für Essen, den Armen drohen schlimme Zeiten. Hinzu kommen ein Klima politischer Unruhe, eine geschwächte Polizei sowie eine Führung, die viel Vertrauen verspielt hat. Die Armen haben sich von der Revolution vor zwei Jahren mehr soziale Gerechtigkeit erhofft. Sie könnten jetzt auf die Idee kommen, sich durch Plünderungen das zu holen, was ihnen ihrer Meinung nach zusteht.

Präsident Mursi war diese Woche zu einem Kurzbesuch in Deutschland. Was kann das Ausland tun, um Ägypten zu stabilisieren?

Mursi hat geglaubt, er kommt aus Berlin mit Taschen voller Geld zurück – das war nicht der Fall. Stattdessen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel klargemacht, dass eine Annäherung zwischen Nordafrika und Europa voraussetzt, dass die demokratischen Prinzipien respektiert werden müssen. Die Muslimbruderschaft wird in Deutschland überschätzt. Sie ist eine Hauptkraft in Ägypten, vertritt aber nicht die Mehrheit. Die oppositionellen Kräfte werden mittel- und langfristig zulegen und stärker werden. Deutschland sollte darum nicht alle seine Eier in das Nest der Muslimbruderschaft legen.

Zur Person

Mustafa el-Labbad (47) ist Chef des „Al- Sharq Zentrums für regionale and strategische Studien“, eines privat finanzierten Thinktanks in Kairo. Der Politikwissenschaftler ist ein viel gefragter politischer Kommentator in der arabischen Welt. Er hat sieben Jahre in Deutschland gelebt und in Berlin über Ägyptens Verschuldungspolitik in den Achtzigerjahren promoviert. [privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2013)

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