Wien und die Donau: Eine Scheinehe

Die Presse
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Erst lag die Stadt Wien direkt an der Donau, dann an einem Nebenarm. Obwohl die Wiener stets auf den Fluss angewiesen waren, haben sie ihn nie zu nah an sich herangelassen.

Man stelle sich einmal vor, die Themse flösse nicht durch London. Die Seine nicht durch Paris, der Tiber nicht durch Rom. Die Donau nicht durch Wien. Wobei man sich Letzteres gar nicht vorzustellen braucht, wie es sinngemäß in diesem Gedankenexperiment des Schriftstellers Egyd Gstättner heißt, denn die Donau, die fließt in Wahrheit nicht durch Wien, jedenfalls nicht richtig: „Sie bleibt gewissermaßen naserümpfend immer am Rand, immer in der Peripherie, und stets hat man den Eindruck, am liebsten würde die Donau an Wien vorbei- oder um Wien herumkommen.“

Wenn das stimmt, wenn die Donau tatsächlich nur ein Beiwerk der Stadt ist, erscheint es doch merkwürdig, wie sehr dieser Fluss mit Wien in Verbindung gebracht wird. Vielleicht ist das dem Mythos geschuldet, dem Höhepunkt des Neujahrskonzertes, wenn die Philharmoniker Johann Strauß' „An der schönen blauen Donau“ spielen (die, wie wir wissen, heute vieles ist, nur nicht blau). Tatsächlich gab es Zeiten, in denen Wien näher an der Donau lag. Über die Jahrhunderte aber wanderte der Fluss immer weiter weg. Daher darf die lange Beziehung zwischen Wien und der Donau durchaus als Scheinehe bezeichnet werden. Zum einen waren die Wiener auf den Fluss als Versorgungsader angewiesen: Ohne den Warentransport auf der Donau wäre die Stadt nie so groß geworden. Der Fluss war auch ein wichtiger Teil der städtischen Befestigung (man denke nur an die zwei Wiener Türkenbelagerungen 1529 und 1683), wie auf dem oben abgebildeten Kupferstich Jacob Hoefnagels aus dem Jahr 1609 zu erkennen ist: Die Innere Stadt war umgeben von Wasser. Zum anderen aber war die Donau eine stetige, unberechenbare Gefahr. Trockneten im Sommer die Nebenarme des Flusses aus, war der Schiffsverkehr behindert.

Viel bedrohlicher waren die Hochwasser, die das historische Wien fortwährend heimsuchten. Siedlungen wurden zerstört, die Arbeit der Fischer erschwert. Bereits im 16. Jahrhundert wurden Versuche unternommen, den störrischen Fluss unter Kontrolle zu bekommen. Erfolglos. Erst die große Regulierung 1875 hat Wien mit den Launen der Donau gewissermaßen versöhnt. Die Regulierung war es auch, die dem Fluss das heutige Gesicht gegeben hat. Denn die eigentliche Donau war ein weit verzweigtes Netz an Flussverläufen. „Seit 800 Jahren liegt die Stadt weit abseits des Hauptstromes“, sagt Severin Hohensinner von der Wiener Universität für Bodenkultur; Hohensinner hat mit einem Forschungsteam im Rahmen des Projektes Enviedan die Umweltgeschichte der Wiener Donau zwischen 1500–1890 aufgearbeitet. Hat sich die Donau also zunächst immer weiter vom Stadtkern entfernt, bildete sie später neue Bögen und kam wieder näher. Allerdings nie zu nah: Mit Eingriffen in das Flussbett haben das die Wiener zu verhindern versucht. Auf den Nebenarm waren sie allerdings angewiesen – wie sollten die Waren sonst in die Stadt gebracht werden? Und dieser Nebenarm, der einst der Hauptarm war, ist uns heute als Donaukanal bekannt.

Taborstraße in Trümmern. Die Regulierungen dienten nicht zuletzt auch dem Gewinn von Siedlungsraum. Dadurch, dass Wien eine „aquatische Landschaft“ war, wie Martin Schmid, Leiter des Zentrums für Umweltgeschichte an der Uni Klagenfurt sagt, waren weite Teile gar nicht bewohnbar. Vor allem im Laufe des 19. Jahrhunderts wuchs die Stadt enorm an – und man dürfe nicht vergessen, so Schmid, dass diese Bevölkerungsexplosion auf unreguliertem Flussboden stattfand. Der Nordbahnhof beispielsweise stand, plakativ gesagt, mitten im Sumpf. Die große Regulierung wurde ab den 1860er-Jahren in Angriff genommen. 30 Jahre zuvor hatte ein klirrend kalter Winter die Stadt in eine Eisscholle verwandelt – und nach einem plötzlichen Wetterumschwung taute das Eis auf und überflutete die Straßen. Allein die Taborstraße war ein einziger Trümmerhaufen.

Nach einem neuerlichen Hochwasser im Jahr 1862 rief Kaiser Franz Joseph die Donauregulierungskommission ins Leben, die (ein paar Jahre später) den heutigen Verlauf gestaltet hat: Die Arme des Flusses sollten zugeschüttet, einzig der Donaukanal erhalten bleiben. Nach nur fünf Jahren Bauzeit wurde die neue Donau eröffnet – und einen Tag später, berichtet die Kommission, „fuhren die Steinschiffe anstandslos in den Durchstich ein.“ Der Hauptfluss war nun ganz offiziell auf der anderen Seite der (Innen-)Stadt. Der Donaukanal hingegen war nach dem Bedeutungsverlust des Schiffsverkehrs im Laufe des 19. Jahrhunderts (Eisenbahn) kein besonders großer Sympathieträger. Die Vorläufer der heutigen Müllabfuhr beseitigten den Schmutz der Stadt, indem sie alles in den Kanal beförderten, wie im Buch „Donaukanal“ von Judith Eiblmayr und Peter Payer geschildert wird (Metroverlag). Und in seinem Bericht über die Beschaffenheit des Kanalwassers schrieb Adolf Heider 1893: „Und es kann gleich erwähnt werden, dass dieselben (Kanalausmündungen, Anm.) mit ihrem widerlich aussehenden Inhalte, der bei Niederwasser in Form ekelhafter Cascaden in den Donaukanal fällt, wohl den meisten Anlass zu Klagen bilden.“

Das Kanalufer „bewohnten“ vornehmlich Obdachlose und Vagabunden, ehe der Kanal gesäubert wurde; sogar zwei Badeanstalten wurden eröffnet. Auch heute können die Wiener hier schwimmen, zwar nicht im Kanalwasser, aber ganz extravagant im Badeschiff. Es waren die neue Oberflächengestaltung und die gastronomische Aufwertung, die ab Ende der 1970er-Jahre aus der ehemaligen „Riviera der Arbeitslosen“ eine jung-schnittige Flaniergegend gemacht haben.

Die Beziehung der Wiener zur Donau selbst ist ambivalent geblieben. Die Bevölkerungszunahme im 20. Jahrhundert hat zumindest auf dem Stadtplan dazu geführt, dass der Fluss mittlerweile tatsächlich durch Wien fließt. Vergessen ist aber nicht, dass die Donau nie wirklich zur Familie gehört hat. In seinem Essay „Wien am Inn“ (1987) hat Andreas Dusl seine eigene Erklärung für diese Art der Beziehung: „Wenn aber der Wiener etwas mehr hasst als sich selbst und die anderen Bewohner seiner taubenverschissenen Stadt, dann ist es das Wasser.“ Ganz so richtig dürfte das auch wieder nicht sein – ein Sommertag auf der Donauinsel beweist das Gegenteil.

Nun gehört eine Scheinehe wie eine richtige Ehe aber auch zu den Familieninterna. Müssen ja nicht alle wissen. Johann Strauß wird beim Neujahrskonzert immer Höhepunkt bleiben, so viel ist sicher. Und auch auf der politischen Ebene ist Wien ganz nah an der Donau: Im Rahmen des Strategiepapiers der Europäischen Union für den Donauraum wird Wien die Rolle zugesprochen, die institutionelle Zusammenarbeit aller Donauländer voranzubringen. Bereits jetzt hat sie mehrere Verbindungsbüros („Compress“) in Donaustädten wie Bratislava, Budapest und Belgrad. Sie dienen dem interkulturellen Austausch und als Kontaktstelle für Wien- und – ja! – Donau-Interessierte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.02.2013)

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