Tunesien: Politikermord löst Volkszorn aus

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Oppositionschef Schokri Belaid wurde auf dem Weg zur Arbeit erschossen. Tausende gingen auf die Straße: Sie machen die Islamisten für das Attentat verantwortlich.

Tunis/Laspalmas. Wie jeden Morgen verließ Schokri Belaid am Mittwoch seine Wohnung in Tunis, um ins Büro zu fahren. Aber der Anwalt und Politiker kam nicht weit. Ein schwarzer Wagen brauste heran, und der 48-Jährige wurde von vier Schüssen niedergestreckt. Belaid erlag kurz darauf seinen schweren Verletzungen.

Kaum war sein Tod bekannt geworden, gingen in Tunis, Sousse, Mahdia Monastir und auch Sidi Bouzid, der Wiege der tunesischen Revolution, tausende Menschen spontan auf die Straße. Im Dezember 2010 zündete sich Mohamed Bouazizi dort selbst an, nachdem die Polizei seinen Obstkarren konfisziert hatte. Der Tod des arbeitslosen Universitätsabsolventen gilt als Auslöser der „Jasminrevolution“ in Tunesien, die den damaligen diktatorischen Präsidenten Ben Ali zur Flucht nach Saudi-Arabien zwang.

Wie schon damals griffen auch heute in Sidi Bouzid erzürnte Demonstranten Polizeistationen an und forderten der Rücktritt der Regierung. „Wir sind über 4000 Menschen, die Reifen anzünden und Steine auf Polizisten werfen“, berichtete ein Bewohner der Stadt. In anderen Städten richtete sich der Zorn gegen die islamistische Ennahda-Partei, die 2011 die Wahlen gewonnen hatte. Ihr Hauptquartier soll angezündet worden sein.

Generalstreik am Donnerstag

Belaid war prominenter Vertreter der säkularen Opposition. Der Menschenrechtsaktivist kritisierte die Regierung und beschuldigte Ennahda, eine Marionette Katars zu sein. Das Golfemirat gilt als Hauptfinancier der islamistischen Regierungspartei. Erst am Tag vor seiner Ermordung hatte Belaid auf einer Pressekonferenz seiner linksgerichteten Partei, der Bewegung patriotischer Demokraten (MPD), betont, sein Leben sei möglicherweise in Gefahr. In den letzten Tagen habe er Todesdrohungen erhalten, darunter von radikalen Imamen. Der MPD-Generalsekretär warf Ennahda vor, ein Treffen gewaltsam angegriffen zu haben.

Premier Hamadi Jebali verurteilte das Attentat und nannte es einen „Schlag gegen die Revolution des arabischen Frühlings“. Seine Partei Ennahda wies jeden Vorwurf einer Beteiligung an der Ermordung ab. Die Demonstranten glauben jedoch nicht an die Unbescholtenheit der Islamisten. „Das ist ein schwarzer Tag in der modernen Geschichte Tunesiens“, meinte ein Lehrer vor dem Innenministerium in Tunis, vor dem bereits 2011 schwere Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften des Regimes stattfanden. „Heute sagen wir zu den Islamisten: ,Haut ab!‘ Genug ist genug.“

Die Proteste könnten sich in den nächsten Tagen noch weiter verstärken. Die Opposition rief für den heutigen Donnerstag zum Generalstreik auf.

Tunesiens Gesellschaft ist gespalten. Seitdem Ennahda die Wahlen gewonnen hat, befürchten liberale, meist gebildete Bevölkerungsschichten eine Islamisierung. Tatsächlich gab es eine konservative Wendung. Salafisten verhinderten Konzerte und Theaterstücke; sie seien unislamisch und gegen die göttlichen Prinzipien des Korans. Rund 300 religiöse Fanatiker griffen die Senderzentrale von Nessma TV an. Der private Kanal hatte den französisch-iranischen Film „Persepolis“ gezeigt, in dem Prophet Mohammed vorgekommen war.

Ennahda hatte versprochen, gegen derartige Vorfälle hart vorzugehen. In Wirklichkeit wurde aber wenig getan. Es entstand der Eindruck, die regierenden Islamisten würden die Salafisten stillschweigend gewähren lassen. Letzten Monat hatte Präsident Moncef Marzouki davor gewarnt, dass die Spannungen zwischen Islamisten und Säkularen zu einem Bürgerkrieg führen könnten.

Ventil für Unzufriedenheit

Die Proteste spiegeln nicht nur die ideologischen Differenzen innerhalb Tunesiens wider. Sie sind auch ein Ventil für die weitverbreitete Unzufriedenheit. Die neue Regierung konnte die ökonomische Krise, die mit dem Sturz des alten Systems begann, nicht annähernd beheben. Die Wirtschaft Tunesiens ist hauptsächlich vom Tourismus abhängig. Und diese Branche litt in den vergangenen Jahren schwer unter der Eurokrise.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2013)

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