Till Lindemann will mit provokanten Texten „deutschen Ernst in groben Unfug“ verwandeln. Nach Übergriffsvorwürfen gegen ihn wird diese Argumentation hinterfragt.
Pop & Provokation

Rammstein-Skandal: Der Backstage-Bereich war nie ein „Safe Space“

Nach Vorwürfen gegen den Rammstein-Sänger steht auch der künstlerische Flirt mit dem Tabubruch in der Kritik. Warum Kunstfiguren kein Alibi für Sexismus sind – und Pop trotzdem von Moral verschont bleiben sollte.

„Nachts im Traum stell ich mir vor, ich leite einen Damenchor. Zehn Mädchen, die ich um mich schare, zusammen hundertsiebzig Jahre und alle nackt in mich verliebt. Schade, dass es das nicht gibt.“ So possierlich träumt der aus Leipzig gebürtige Textschnitzer Till Lindemann in seinem Lyrikbändchen „In stillen Nächten“. In den Poemen wird viel Blut und „Bubenschaum“ verspritzt, es fließen aber auch jede Menge Tränen. „Ich bin schmutzig, geh nicht weg. Friss meinen Dreck, trink meinen Dreck. Schluck es runter, leck es weg. Du sollst weinen, davon wird die Erde nass, zwischen meinen Beinen, Tränen im Gras.“

Verlegt wurde der Band von Kiepenheuer & Witsch, der vor wenigen Tagen die Zusammenarbeit mit Lindemann beendete, einseitig und mit ein wenig heuchlerischen Argumenten: Das Geld mit den Gedichten hat KiWi ja schon verdient. Grund für das Ausscheren ist kein Gerichtsurteil, sondern Anschuldigungen, die in den sozialen Medien kolportiert wurden. Nach einem Konzert in Vilnius steht seitens einer irischen Konzertbesucherin, die angeblich für eine Backstage-Party gecastet wurde, der Vorwurf des sexuellen Übergriffs im Raum. Recherchen von NDR und „Süddeutscher Zeitung“ führten zu weiteren, anonymen Anschuldigungen anderer Frauen. Bis diese endgültig geklärt sind – und das wird wohl länger dauern –, läuft die Tour von Lindemanns Hauptprojekt, Rammstein, höchst erfolgreich weiter. In Städten wie Berlin und München gastiert die Band drei Mal in den größten Stadien, in Wien Ende Juli zwei Mal im Ernst-Happel-Stadion. Was lockt die Massen zu diesem stets verlässlich wüsten Spektakel?

Humoriges Theater der Grausamkeit

Es ist der ständige Flirt mit dem Tabubruch, der in einer strikt geregelten Welt für gewisse Erleichterung beim Publikum sorgt. Selbiger geht bei Rammstein weit über die Sexualität hinaus. Die Koketterie dieser Band mit totalitärer Ästhetik geriet oft in den Fokus der Kritik, wurde aber u. a. von Philosophen wie Slavoj Žižek kunstvoll wegargumentiert.

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