Gastkommentar EU-Wahl 2024

Staubtrocken ist die EU schon lange nicht mehr

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Es wird die erste EU-Wahl nach dem Brexit sein, und eine bei der die Jungen mehr zu sagen haben werden.

Der Autor

Mag. Paul Schmidt (* 1975) ist seit September 2009 Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik (ÖGfE).


Heute in einem Jahr wird in Österreich das Europäische Parlament neu gewählt. EU-weit sind rund 400 Millionen Menschen aufgerufen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen und von 6. bis 9. Juni an der zweitgrößten Wahl der Welt teilzunehmen. Oft abschätzig als Nebenwahl bezeichnet, hat sich die Europawahl hierzulande emanzipiert.

Trotz örtlicher Entfernung und geringer medialer Sichtbarkeit des EU-Parlaments stieg die Wahlbeteiligung, insbesondere durch eine stärkere Teilnahme der Jung- und Erstwähler, von 2014 auf 2019 um fast 15 Prozentpunkte auf knapp 60 Prozent an. Nach wie vor deutlich weniger als bei nationalen Wahlen – an den letzten Nationalratswahlen nahmen etwa drei Viertel der Wahlberechtigten teil – aber der Trend zeigt nach oben. Um diesen beizubehalten, muss klar gesagt werden, warum es sich lohnt, seine Stimme bei den Europawahlen abzugeben.

Die kommende Europawahl findet zu einer Zeit statt, in der in unserer Nachbarschaft Krieg geführt und der Zusammenhalt in Europa gehörig auf die Probe gestellt wird. Und das nach Jahren anderer, weitreichender Krisen, wie der Corona-Pandemie, die das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik bereits einer schweren Belastungsprobe unterzogen haben. Die nächste Europawahl wird die erste Wahl nach dem britischen EU-Austritt sein.

Erstmals wählen ab 16

Sie wird die erste Wahl sein, bei der, wie schon in Österreich und Malta, auch in Deutschland und Belgien junge Menschen ab 16 teilnehmen können. Allein in diesen beiden Ländern haben 3,4 Millionen Jungwähler damit die Chance, ihre europäische Zukunft selbst mitzubestimmen. Sollte es letztlich weder die oft diskutierten transnationalen Listen noch europäische Spitzenkandidaten für die Funktion des Kommissionspräsidenten geben, wird es allerdings wieder schwerfallen, bei den Europawahlen ein echtes gesamteuropäisches Momentum zu schaffen. Zu konträr sind hier die Positionen der Mitgliedstaaten und EU-Abgeordneten. Die kommende Wahl wird auch nicht EU-weit an einem einzigen Tag, angedacht war am 9. Mai, dem Europatag, stattfinden. Zu unterschiedlich sind die nationalen Wahltraditionen. Dennoch: Ein mit starkem Backing ausgestattetes Parlament ist notwendiger denn je, um der direktdemokratischen Mitbestimmung in der EU – auch im institutionellen Zusammenspiel mit Ministerrat und EU-Kommission – ausreichend Gewicht zu verleihen.

Thematisch werden den Wahlkampf die sicherheits- und wirtschaftspolitischen Folgen des russischen Kriegs gegen die Ukraine mit all ihren Begleiterscheinungen – wie Energiesicherheit, Teuerung und soziale Ungleichheit – dominieren. Dazu wird die verstärkte verteidigungspolitische Zusammenarbeit in Europa ins Zentrum der Diskussionen rücken – ein Thema, dem sich vor allem auch das neutrale Österreich zu stellen hat. Auch zum EU-Außengrenzschutz sowie der Frage eines gemeinsamen europäischen Asyl- und Migrationssystems sind heftige Debatten zu erwarten. Zu wünschen wäre, dass diese nicht nur Emotionen bedienen und vor allem Lösungen anbieten und nicht ausschließlich Probleme in den Vordergrund stellen.

Der „Europäische Green Deal“ im Praxischeck

Der Kampf gegen den Klimawandel, der zumindest im deutschsprachigen Raum bei den Europawahlen 2019 zentral war, wird dagegen angesichts dieser thematischen Gemengelage weniger Raum einnehmen, der „Europäische Green Deal“ vielmehr auf Basis von dessen praktischer Durchführbarkeit und Leistbarkeit diskutiert werden.

Eine besondere Note erhalten die Europawahlen zudem dadurch, dass unmittelbar danach Ungarn den halbjährlichen EU-Ratsvorsitz übernehmen soll. Ein Land, das durch seine Positionen in Sachen Russland-Politik, Medienfreiheit und Rechtstaatlichkeit in massiver Kritik steht.

Ungeachtet der Vielfalt der Themen, deutet einiges darauf hin, dass sich die Zusammensetzung und damit das Kräfteverhältnis im EU-Parlament insgesamt nicht dramatisch verschieben werden. Gemäß aktueller Sitzprojektionen für die nächste Legislaturperiode würden die beiden großen Blöcke, die Europäische Volkspartei und die Sozialdemokratie, leichte Verluste einfahren, während jedoch den Grünen sowie Liberalen ein massiver Absturz in der Wählergunst drohen könnte. Gleichzeitig würden die politischen Ränder moderat zulegen. Die europaskeptischen Parteien könnten ihr gemeinsames Gewicht zwar erhöhen, aber auch künftig von einer parlamentarischen Mehrheit weit entfernt sein. Seit Jahren wird über einen möglichen Zusammenschluss zu einer großen rechten europaskeptischen Fraktion spekuliert, der bis dato aber immer an internen Differenzen gescheitert ist. Nachdem nun auch noch der Krieg in der Ukraine pro- und anti-russische Fraktionen auseinanderdividiert, sind die Aussichten auf einen vereinten Rechtsblock nach den Europawahlen 2024 noch weiter gesunken.

Österreich befindet sich wiederum in einer speziellen Situation, da im Herbst 2024 auch die nächsten regulären Nationalratswahlen anstehen. Aus strategischer Sicht täten die politischen Parteien gut daran, die beiden Wahlgänge als kommunizierende Gefäße zu betrachten und die Europawahlen nicht zu vernachlässigen, da sich ihr Ausgang als trendweisend bzw. – verfestigend herausstellen könnte. Integrationsfreundliche Kräfte sollten den EU-Wahlkampf proaktiv gestalten und nicht vor anti-europäischen Stimmen in die Knie gehen. In Zeiten permanenter Krisen wäre eine positive Erzählung besonders wichtig, denn die Performance der EU ist jedenfalls besser als ihr Ruf. Was gewesen wäre, hätte es die Union nicht gegeben, möchte man sich lieber nicht ausmalen. Ein Leistungsnachweis der aktuellen Legislaturperiode hilft, bei allen Unzulänglichkeiten und Problemen, die es selbstverständlich gibt, den Blick zu schärfen und die Notwendigkeit einer europäischen Zusammenarbeit öffentlich sichtbar zu machen. Wenn man denn will.

Die EU ist besser als ihr Ruf

Rund um den Globus gerät die liberale Demokratie zusehends unter Druck, die Einflussnahme von externen Akteuren auf demokratische Prozesse mit gezielter Desinformation nimmt zu. Umso entscheidender ist es daher zu vermitteln, wie wertvoll es eigentlich ist, in einer freien und geheimen Wahl sein Stimmrecht ausüben zu können und welche Errungenschaft es bedeutet, dass die Mitgliedsländer der EU, trotz aller Meinungsverschiedenheiten, gemeinsam, und nicht gegeneinander, ihre Zukunft gestalten.

Die vergangenen Jahre haben deutlich gemacht, wie eng wir in Europa miteinander verbunden sind und dass wir uns als einzelne Nationalstaaten eben nicht von internationalen Entwicklungen abkapseln können. Die Basis für eine spannende Auseinandersetzung wäre also gelegt, denn staubtrocken ist Europa schon lange nicht mehr. Und warum sollten eigentlich nur negative Emotionen die Europa-Debatte dominieren? Probieren wir doch einmal das Gegenteil!

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