Ukraine-Historiker

Serhii Plokhy: „Die Krim wurde in Wahrheit verschenkt, weil sie ein ökonomisches Desaster war“

„Die ursprüngliche Schwäche der Ukraine war gleichzeitig die Grundlage für die Stärke ihrer Demokratie“, sagt Plokhy: Patriotisches Wandbild in der ukrainischen Stadt Riwne, 31. Mai.
„Die ursprüngliche Schwäche der Ukraine war gleichzeitig die Grundlage für die Stärke ihrer Demokratie“, sagt Plokhy: Patriotisches Wandbild in der ukrainischen Stadt Riwne, 31. Mai. Reuters/GLEB GARANICH
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Was tatsächlich im Jahr 1954 passierte, als Chruschtschow die Krim den Ukrainern schenkte, und was die Wurzeln der ukrainischen Demokratie mit den amerikanischen Siedlern des 18. Jahrhunderts zu tun haben: Ukraine-Historiker Serhii Plokhij im Interview.

Zu den ukrainischen Nationalmythen gehört der egalitäre Geist der Kosaken. Auch in Ihrem Buch, das die Geschichte und Vorgeschichte des jetzigen Kriegs erzählt, liest man von „demokratischen“ Kosaken-Institutionen. Ist es nicht heikel, diesen modernen Begriff auf das 17. Jahrhundert anzuwenden, und suggeriert das nicht einen uralten Kampf zwischen ukrainischer „Demokratie“ und russischem „Autoritarismus“?

Natürlich besteht immer die Gefahr, Gegenwart in Geschichte hineinzutragen. Es ist tatsächlich leichter zu behaupten, dass es eine demokratische Tradition in der Ukraine gibt, die in gewisser Weise heute fortgeführt wird, als zu beweisen, wie es tatsächlich damals im 17. Jahrhundert war. Sicher ist aber eines: Das Bild der Kosaken als einer sehr egalitären Vereinigung wurde im 19. Jahrhundert Bestandteil der ukrainischen nationalen Mythologie. Ob das ein korrektes Bild von den Kosaken ist oder nicht, steht auf einem anderen Blatt. Aber dass die ukrainische Nationalbewegung diese Mythologie forciert hat, zeigt mindestens, dass sie der Demokratie Wert beimaß.

Wo sehen Sie denn als Historiker die Grundlagen der demokratischen Staatsform in der Ukraine?

Als Historiker habe ich eine prosaischere und nicht so weit in die Geschichte zurückgehende Lesart. Für mich hat die ukrainische Demokratie dieselben Grundlagen wie die amerikanische im 18. Jahrhundert

Wie das?

Die Ukraine trat als eigenständiges Gebilde aus drei Imperien heraus (dem Königreich Polen-Litauen, dem Russischen Reich und der Habsburgermonarchie, Anm. d. Red.). Sie bestand also aus sehr unterschiedlichen Regionen mit unterschiedlicher politischer Geschichte, vereint durch die Nationen-Idee des 19. Jahrhunderts. Ihre Regionen konnten, wie im Fall der amerikanischen Siedler, nur beisammen bleiben, wenn es keinen Druck gab, eine einheitliche Nation zu machen. Das führt uns zur Geschichte nach 1991. Eine ursprüngliche Schwäche der Ukraine war gleichzeitig eine Grundlage für die Stärke ihrer Demokratie – einer chaotischen, korrupten Demokratie, aber einer Demokratie: Es gab nicht eine einzelne Region, die mächtig genug gewesen wäre, alle anderen zu unterdrücken. Janukowitsch versuchte das mit dem Donbass und scheiterte: Er war der einzige Präsident, der keine zweite Amtszeit erlebte.

Dass die Ukraine sich 1991 für unabhängig erklärte, führte direkt zu dem, was Putin als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat, zur Auflösung der UdSSR. Warum war unter allen Abspaltungen gerade die der Ukraine entscheidend?

Russland glaubte, dass es unmöglich ist, als Imperium ohne die zweitgrößte Sowjetrepublik zu existieren, wegen deren ökonomischem Potenzial, aber auch durch ihren slawischen, christlichen Charakter in einem Reich mit etlichen nichtslawischen, muslimischen Republiken. So wurde dann auch die Ukraine wieder essenziell, als es galt, Kontrolle über den postsowjetischen Raum wiederzugewinnen. Das ist ein Grund, warum wir den Krieg in der Ukraine haben, nicht zum Beispiel im Baltikum.

War zu Kriegsausbruch in Wien, als Visiting Fellow am im Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM - hier sieht man ihn in der dortigen Bibliothek): der amerikanisch-ukrainische Historiker Serhii Plokhy.
War zu Kriegsausbruch in Wien, als Visiting Fellow am im Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM - hier sieht man ihn in der dortigen Bibliothek): der amerikanisch-ukrainische Historiker Serhii Plokhy. Clemens Fabry

Dass Russland ohne die Ukraine aufhöre, ein Imperium zu sein, und mit der Ukraine ein Imperium bleibe, schrieb schon in den 1990ern US-Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski als Begründung dafür, warum der Westen die Ukraine an sich binden müsse. Also müssten wir im Grunde Putin Recht geben – ohne Ukraine kein russisches Imperium. Nur mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen . . .

Das Verständnis dessen, was Imperium heißt, hat sich allerdings seitdem geändert. Für mich liegen die politischen Gründe für den Krieg im Konzept einer multipolaren Weltordnung, die im Russland der 1990er aufkam, als Revolte gegen eine von den USA dominierte Welt. Diese Idee vertrat der russische Premier Jewgeni Primakow Ende der 1990er. Um nun aber mit den USA und mit China konkurrieren zu können, musste Russland im postsowjetischen Raum Ressourcen mobilisieren. Der gegenwärtige Krieg begann in Wahrheit im Februar 2014 mit der Entscheidung der Ukraine, ein Assoziierungsabkommen mit der EU abzuschließen. Ein solches Abkommen bedeutete, dass das Land sich keiner anderen Union anschließen kann. Putin war aber 2012 mit der Vision zurückgekommen, Russland wieder zu einem Global Player zu machen. Das ging schwer ohne die Ukraine.

Der Euromaidan war die Reaktion auf Putins Hintertreibung des Abkommens, Putin reagierte mit der Annexion der Krim. Wem die eigentlich „gehört“, ist politisch-rechtlich klar, die Annexion verletzte internationales Recht und nationale Souveränität. Versucht man hingegen historisch gewachsene Ansprüche zu begründen, wird es da nicht für alle Seiten heikel?

Das historische Argument kann einen tatsächlich zu sehr unerwarteten Ergebnissen führen und ist gerade in Bezug auf die Krim sehr kompliziert. Die Krim wird ja schon beim griechischen Geschichtsschreiber Herodot erwähnt, die Taurer waren hier und die Kimmerer, die Skythen, dann die griechischen Kolonisatoren, die Osmanen, Krimtataren und schließlich die russische Besiedelung, ein typischer Fall von Siedlungs-Kolonialismus. Die begann allerdings erst im 19. Jahrhundert, in der Zeitrechnung von Imperien ist das eine sehr junge Entwicklung. Je nachdem, wie weit man hier in die Geschichte zurück geht, kann man ganz unterschiedliche Ansprüche erheben.

»Die Krim war ein Alptraum für die russische Bürokratie.«

Plokhy über die Gründe für das Verschenken der Krim an die Ukraine 1954

Chruschtschows Rückgabe der Krim an die Ukraine 1954 hatte in Wahrheit wirtschaftliche Gründe, schreiben Sie: Was genau hat ihn dazu bewegt?

Die Krim war in Wahrheit ein ökonomisches Desaster. Halbinseln hängen in der Regel vom Festland ab, im Fall der Krim war das die Ukraine. Die Krim war im Zweiten Weltkrieg zerstört worden, und als ob das nicht genug wäre, schickte Stalin auch noch die Krimtataren ins Exil und siedelte russische Bauern an, die nicht wussten, wie man in dem südlichen Klima Land bebaut. Außerdem war es ein Alptraum für die russische Bürokratie, die Krim ohne direkten Zugang zum Festland zu managen. Chruschtschow löste das Problem auf diese Weise und demonstrierte so kurz nach Stalins Tod, dass er wirtschaftliche Probleme lösen kann.

1991 stimmten 54 Prozent der dortigen ethnischen Russen für die Unabhängigkeit der Ukraine, auf dem gesamten Gebiet der ukrainischen Sowjetrepublik sogar mehr als 60 Prozent. Was waren ihre Hauptmotive, glauben Sie?

Zunächst herrschte die allgemeine Überzeugung, dass die Sowjetunion nicht mehr funktioniert. Und die Erwartung, dass es einzelne Republiken besser machen würden. Und tatsächlich lief es zum Beispiel in den baltischen Republiken besser als in anderen Teilen der UdSSR. Ein weiterer Grund war, dass die ethnischen Russen den ukrainischen Staat nicht als Bedrohung ansahen.

Serhii Plokhy und sein Buch „Der Angriff“

Der ukrainisch-amerikanische Historiker Serhii Plokhy, geboren 1957 in Nischni Nowgorod, ist Professor für ukrainische Geschichte in Harvard und Direktor des dortigen Ukrainian Research Institute. 2022 war er Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien. „Der Angriff“ erzählt die Geschichte und Vorgeschichte des Krieges in der Ukraine und ist bei Hoffmann und Campe erschienen. 

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