Tunesien: Straßenschlachten bei Trauerfeier

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Zehntausende Menschen nahmen am Begräbnis des ermordeten Politikers Schokri Belaid teil. Sie skandierten Slogans gegen die Islamisten und forderten eine neue Revolution.

Tunis/Wien/ ag. „Das Volk will eine neue Revolution!“, skandierten aufgebrachte Tunesier am Freitag, als sie den vor wenigen Tagen ermordeten Oppositionspolitiker Schokri Belaid zu Grabe trugen. Trotz Regens nahmen zehntausende Menschen an der Trauerfeier für den beliebten Menschenrechtsaktivisten teil, der ein überzeugter Kritiker der islamistischen Regierungspartei Ennahda gewesen war. Die Menschen trugen Bilder Belaids und riefen Slogans gegen die Ennahda. Sie machten in lauten Chören die Partei für den Tod des Oppositionellen verantwortlich. Viele sangen die Nationalhymne.

Das Begräbnis – die größte Trauerfeier in Tunesien seit dem Tod des Präsidenten und Staatsgründers Habib Bourguiba im Jahr 2000 – war somit von Anfang an auch eine Massenkundgebung gegen die Regierung. Und dementsprechend reagierten die Sicherheitskräfte: Über der Trauergemeinde kreisten Militärhubschrauber. Hunderte Polizisten in Kampfmontur hielten sich im Zentrum von Tunis bereit, wo es bereits in den vergangenen Tagen bei Demonstrationen zu Unruhen gekommen war.

Am Rande der Trauerfeier kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. Einige Demonstranten versuchten, Autos zu beschädigen. Nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP setzte die Polizei Tränengas ein, um die Protestierenden auseinanderzutreiben.

Alle Flüge nach Tunis abgesagt

Zugleich legte ein Generalstreik die Stadt weitgehend lahm – der erste in Tunesien seit 35 Jahren. Banken, Fabriken und viele Geschäfte blieben geschlossen. Gewerkschaften und die Opposition hatten nach der Ermordung Belaids zu dem Aufstand ausgerufen. Auch der Flugverkehr war betroffen. Tunis Air sagte alle geplanten Flüge in die Hauptstadt ab.

Der Tod des regierungskritischen Aktivisten hat zwei Jahre nach der pro-demokratischen „Jasminrevolution“ eine Protestwelle ausgelöst, die stark an die Kundgebungen gegen das alte Regime des Diktators Zine el-Abidine Ben Ali vor zwei Jahren erinnert. Ebenso wie damals lassen viele Tunesier bei den aktuellen Demonstrationen ihrer Wut und ihrem Frust über fehlende politische und wirtschaftliche Reformen freien Lauf.

Trotz Versprechen der Islamisten, etwas gegen die hohe Arbeitslosigkeit und Armut unternehmen zu wollen, hat sich in dem arabischen Land in den letzten zwei Jahren wenig getan: Immer noch ist jeder dritte junge Tunesier ohne Arbeit, immer noch liegt die Wirtschaft auf dem Boden.

Auch der erhoffte Demokratisierungsprozess stockt: Eine Verfassung scheiterte bisher an den zerstrittenen Parteien, die sich über einen gemeinsamen Text nicht einigen können. Viele Tunesier beklagen in dem traditionell säkularen arabischen Land eine schleichende Islamisierung in vielen Gesellschaftsbereichen, seit die Ennahda vor zwei Jahren bei freien Wahlen an die Macht gewählt worden ist. So sollen Filmaufführungen und Theatervorstellung, weil sie als „anti-islamisch“ galten, nach Intervention der islamischen Partei abgesagt worden sein.

Doch nicht nur in der Hauptstadt Tunis wurde zuletzt der Machtkampf zwischen säkularen Kräften und Islamisten ausgetragen. Auch in der Stadt Sidi Bouzid, wo die Revolution vor zwei Jahren ihren Anfang genommen hatte, versammelten sich etwa 10.000Menschen, um des Ermordeten zu gedenken. In der südlichen Bergbaustadt Gafsa gab es schwere Ausschreitungen. Die Polizei trieb mit Tränengas Demonstranten auseinander, die mit Steinen warfen. Tunesische Medien berichteten von Übergriffen auf Ennahda-Büros in mehreren Städten des Landes.

Gespaltene Islamisten

Das Innenministerium mahnte die Menschen zur Ruhe. Die Regierung scheint aber zunehmend die Kontrolle über die angespannte Lage im Land zu verlieren. Außerdem tun sich in der Regierungspartei immer offensichtlicher interne Risse auf: Nach dem Attentat vom Mittwoch hat Ministerpräsident Hamadi Jebali die Bildung einer überparteilichen Expertenregierung und die Vorbereitung von Neuwahlen angekündigt. Doch seine eigene Partei ist dagegen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.02.2013)

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