Khan Academy: Das verkehrte Klassenzimmer

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Ein US-amerikanischer Hedgefonds-Analyst gibt Mathe-Nachhilfe via YouTube. Wenige Jahre später nutzen Millionen Schüler seine Lehrvideos. Kann die Idee von Salman Khan das Schulsystem auf den Kopf stellen?

Eine rührende Entstehungsgeschichte gehört heute fast schon zum guten Ton. Bei Salman Khan hat alles mit seiner Cousine Nadia und ihren Problemen in Mathe begonnen. Khan gibt ihr via Internet Nachhilfe mit einem Programm, das wie eine virtuelle Tafel funktioniert. Bald bitten ihn andere Familienmitglieder um Unterstützung. Khan, damals ein aufstrebender Hedgefonds-Analyst in Boston, findet Gefallen am Unterrichten. Irgendwann bekommt er gravierende Zeitprobleme – und kommt auf den Gedanken, die Lektionen aufzunehmen und auf YouTube online zu stellen. Die Idee boomt. Die Khan Academy ist geboren. 2009 schließlich hängt der heute 36-jährige Khan seinen Job an den Nagel, um sich Vollzeit seinem Projekt zu widmen.

Heute stellt Khan auf YouTube mehr als 3400 Lektionen kostenlos zur Verfügung, nicht mehr nur zu Mathematik, sondern längst auch zu Physik, BWL oder französischer Geschichte. Ein Teil der Videos ist bereits in andere Sprachen übersetzt worden, rund 230 gibt es auf Deutsch. Pro Monat hat der Kanal rund sechs Millionen Besucher – die Khan Academy ist zur meistgenutzten Bildungsplattform im Internet geworden. Sogar Microsoft-Gründer Bill Gates – der Khan neben Google finanziell unterstützt – nutzt sie, um mit seinen Kindern Mathe zu lernen. „Das ist der Beginn der Revolution“, sagte er einmal. Kann die Idee tatsächlich das Schulsystem auf den Kopf stellen?

Das ist zumindest das Ziel, das Salman Khan in seinem Buch beschreibt, das unlängst auf Deutsch erschienen ist. Er will die Bildung weltweit verändern. Dabei sind Khans Videos vom pädagogischen Gesichtspunkt alles andere als innovativ. Fast asketisch gehalten, ist es zumeist nur eine bunte Kritzelei auf schwarzem Hintergrund – die Analogie zur Schultafel –, mittels der ein Sachverhalt in meist zehn Minuten erklärt wird. Im lockeren Plauderton, aber ohne Interaktion. Klassisch frontal eigentlich.

Mehr Freiheit, auch für Lehrer

Und dennoch bieten Khans Online-Lektionen die Chance, Schule völlig anders zu organisieren. Und einige US-amerikanische Schulen machen es vor – unter dem Motto „flipped classroom“, frei übersetzt also das verkehrte Klassenzimmer. Konkret: Was früher frontal vorgetragen wurde, lernen die Schüler selbstständig online, in ihrem eigenen Tempo, mit so vielen Wiederholungen wie nötig. Im Unterricht wird nun das gemacht, was zuvor die Hausaufgaben waren. Es wird geübt, vertieft – und es bleibt viel mehr Zeit für individuelle Fragen.

Nicht nur für die Schüler, auch für die Lehrer biete das mehr Freiheit, meint Khan. Eine Lehrerin zitiert er mit den Worten, sie fühle sich jetzt wie die Dirigentin eines Orchesters, die die Trompeter unterstützen könne – während die Geiger selbstständig üben. Es sind dennoch die Lehrer von denen die schärfste Kritik kommt. Die Sorge: Lehrer würden zu bloßen Statisten degradiert. Könnte ein Pädagoge so einfach durch Online-Frontalunterricht ersetzt werden, sei er wohl schlicht falsch im Job – denn Lehrer würden bilden, nicht vorlesen.

Mag sein, dass hier eine gewisse Angst mitschwingt – davor, zu guter Letzt doch nicht so unentbehrlich zu sein, wie man glaubte. Dabei ist das – den Lehrer zu ersetzen – im Grunde gar nicht das Ansinnen von Salman Khan. Er sieht lediglich eine neue Rolle für den Pädagogen vor. Der Zeitpunkt dafür wäre perfekt. Die Schüler nämlich sind es ohnehin schon längst gewöhnt, sich selbstständig Wissen im Netz zu suchen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2013)

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