Einzelschwein oder Solo-Prinz?

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So sind sie angeblich: egoistisch, verwöhnt und altklug, aber auch besonders kontaktfreudig und selbstbewusst. Vorurteile gegenüber Einzelkindern gibt es viele.

Verwöhnte Prinzessin auf der Erbse, ich-verliebter Egozentriker oder die geborene Chefin – wer kennt sie nicht, die Vorurteile über „typische Einzelkinder“? Wer als Solokind aufwächst, der hat es, so meinen die anderen, entweder besonders leicht oder – noch viel öfter – besonders schwer. Dabei zeigen Studien, dass es keine besondere Rolle spielt, in welcher Konstellation Kinder aufwachsen. Die Kinderpsychologin Claudia Rupp sagt sogar: „Es ist nicht wichtig, ob ein Kind als Einzelkind oder mit Geschwistern aufwächst.“ Wichtiger sei die Erziehung. „Es gibt auch egoistische Geschwisterkinder und großzügige Einzelkinder.“

In grauer Vorzeit galt es gar als „Krankheit in sich“, Einzelkind zu sein. Der amerikanische Psychologe Stanley Hall hat diesen Unsinn vor gut 100 Jahren behauptet. Und sein Wiener Kollege Alfred Adler, ein Schüler Sigmund Freuds und wie er in einer Großfamilie aufgewachsen, pflichtete ihm eifrig bei: Einzelkinder seien „Parasiten“. Nur langsam wandelte sich das negative Image der Ur-Familie Vater, Mutter, Kind. Phasen, in denen es angesagt oder wirtschaftlich notwendig war, nur ein Kind zu haben – Wirtschaftskrise in den 1920ern, Studenten- und Frauenbewegung der 1960er – wurden von Zeiten abgelöst, in denen die Mehrkindfamilie stärker gelebt wurde, wie etwa in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg.

Heute haben Familien die freie Wahl. Und es gibt Frauen wie Sylvia S. aus Wien, die sich ganz bewusst für nur ein Kind entscheiden. Ihre Tochter Lea ist heute 18 Jahre alt. „Ich habe nie dazu geneigt, mehr Kinder zu wollen. Mir hat eines schon genügt. Ich hätte mir das auch gar nicht vorstellen können, meine Liebe auf zwei Kinder aufzuteilen“, sagt sie heute.

Ist das schon Egoismus? Ein Wort, das im Zusammenhang mit Einzelkindern und ihren Erzeugern oft fällt. Die Eltern würden ihre Zeit und ihren Geldbeutel nicht auf mehrere Kinder aufteilen wollen, heißt es dann. Noch 1983 meinte der deutsche Psychologe Walter Toman: „Einzelkinder haben mühsame Eltern“, und sah die Einkindfamilie daher „als milde Form der gestörten Familie“.

Heute ist die Only-Child-Family längst nicht mehr so im Verruf, dazu ist sie viel zu weit verbreitet. Dennoch hält sich hartnäckig die Annahme, dass es immer mehr Einkindfamilien gibt. Dabei stimmt das nicht, wie die Soziologin Christine Geserick vom Österreichischen Institut für Familienforschung herausfand. Ihre Untersuchung österreichischer und deutscher Haushalte ergab, dass die Zahl von Einkindfamilien in den vergangenen 50 Jahren gleich geblieben ist, nämlich bei rund 50 Prozent. Dafür ist die Zahl der Zweikindfamilien stark gestiegen (von 29,4 auf 37,8 Prozent), die von Mehrkindfamilien signifikant gefallen. Geserick geht davon aus, dass Einkindfamilien selten geplant sind. „Sie entstehen, weil der Wunsch nach einem zweiten Kind nicht realisiert werden kann.“ In Deutschland hat bis heute übrigens die Mehrheit Geschwister – nämlich drei von vier Kindern.


Überdosis Aufmerksamkeit.
Und tatsächlich wünschen sich manche Einzelkinder Zeit ihres Lebens Geschwister und vermissen ein gleichaltriges Gegenüber. Die Hamburger Journalistin Marion Rollin befragte für ihren Ratgeberbestseller „Typisch Einzelkind“, der 1990 erstmals stark mit den Vorurteilen aufräumen wollte, viele Kinder, und der 12-jährige Alexander gab damals zu Protokoll: „Ohne Hund wäre ich ein verdammtes Einzelschwein.“

Als Einzelschwein würde sich die 18-jährige Lea nie bezeichnen. Obwohl sie in ihrer Familie sogar das einzige Kind ihrer Generation ist, hat sie sich nie Geschwister gewünscht. Vielleicht, weil sie eine Alternative gehabt hat. „Ich hatte einen besten Freund, der wie ein Bruder für mich war.“ Eine Überdosis Aufmerksamkeit bekam sie nur bei Familienfesten wie Weihnachten, wenn sich alle Erwachsenen um sie geschart haben.


Ersatzgeschwister. Dafür hat Lea etwas anderes bemerkt: Wer Einzelkind ist, muss sich früh um ein anderes soziales Netzwerk kümmern, das die gleichaltrigen Geschwister ersetzt. Und das sind meistens die guten Freunde. Das weiß auch die 39-jährige Susanne Greber, die zwar ebenfalls als Einzelkind aufgewachsen ist, aber ständig die Nachbarskinder zu Besuch hatte. Bis heute ist sie mit zwei Freundinnen von früher eng verbunden. „Die sind ein richtiger Geschwisterersatz für mich.“ Logisch, dass sie auch gegenseitig Taufpaten ihrer Kinder sind. Für eine dieser Freundinnen, Cathy Mahony, selbst Einzelkind, war es wiederum wichtig, selbst zwei Kinder zu bekommen. „Ich habe mir selbst immer einen großen Bruder gewünscht.“ Umgekehrt müssen auch Geschwister nicht immer die engsten Bezugspersonen sein. Leas Mutter, Sylvia S., suchte sich trotz ihrer Schwester schon früh einen Freundeskreis außerhalb der eigenen Sippe. Dem Sprichwort „Geschwister kann man sich nicht aussuchen, Freunde schon“ kann sie, wie ihre Tochter, einiges abgewinnen.

All diese Erfahrungsberichte zeigen: Das Einzelkind-Dasein hat – wie jede andere Familienkonstellation auch – Vor- und Nachteile. Wer allein ist, hat ein Leben lang die ungeteilte Aufmerksamkeit der Eltern. Das kann sehr schön, aber auch sehr anstrengend sein. Wer gewohnt ist, bei jeder Handlung beäugt, beklatscht oder kritisiert zu werden, erlangt zwar im besten Fall ein gesundes Selbstvertrauen (was auch Studien bestätigen), im schlimmsten Fall kann die ständige Beobachtung aber zur Belastung werden.

Was viele Einzelkinder feststellen: Der Blick auf ihre Rolle als Solitär in der Kernfamilie verändert sich im Lauf des Lebens mehrmals: Dank besserer Betreuungseinrichtungen und der Häufung gleichaltriger Einzelkinder als Spielkameraden fehlen ihnen im Kindes- und Jugendalter heute seltener Geschwister. Erst im fortschreitenden Alter, ab 20 oder 30, wird vielen die Tragweite des Solodaseins bewusst. Sind die Eltern erst einmal alt und gebrechlich, werden die Rollen getauscht, und das Kind muss allein die Eltern betreuen. Obwohl auch das Geschwisterkindern passieren kann. Wenn etwa der Bruder weit weg wohnt oder die Schwester mit der Familie gebrochen hat, bleiben die Betreuungspflichten ebenso an einem Kind hängen.
Grenzen setzen. Und was können die Eltern tun, um ihre Solisten nicht zu späteren Tyrannen zu erziehen? Grenzen setzen, sagt Psychologin Claudia Rupp. Wenn das Kind immer entscheidet, wohin es im Urlaub geht und was gegessen wird, dann ist das der erste Weg zum verwöhnten Persönchen. Eltern müssen darauf achten, dass ihr Einzelkind im Umgang mit Gleichaltrigen lernt, zurückzustecken, aber auch um den eigenen Willen zu kämpfen. Streiten ist etwas, das vielen Einzelkindern laut Studien eher schwerfällt.

Die intensivere Auseinandersetzung der Psychologie mit dem „Mythos Einzelkind“ seit den 1980er-Jahren hat dazu beigetragen, Klischees weitgehend zu widerlegen. Doch manche Vorurteile, die guten, lassen Einzelkinder und ihre Eltern bis heute gern gelten: dass die kleinen Solitäre einer Familie etwa oft optimistischer, intelligenter und konzentrierter sind, weil sie mehr gefördert werden und gewohnt sind, sich allein zu beschäftigen. Dass sie extrovertierter und kontaktfreudiger sind, weil sie früh außerhalb der Familie Kontakte knüpfen mussten.

Dass sie öfter Chefs werden als andere, stimmt nur bedingt. Auch Erstgeborenen, die jedenfalls bis zur Geburt des Geschwisterchens Einzelkind sind, wird ein gewisser Zug zur Führungsstärke nachgesagt. Doch auch das ist in Wahrheit wieder nur ein Klischee.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.02.2013)

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