Jung: "Dann muss es gleich ein Traumkind sein"

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Der deutsche Psychotherapeut Mathias Jung hat sich viel mit Geschwisterforschung befasst. Für ihn sind Einzelkinder keine Sorgenkinder.

Was sind die größten Mythen über Einzelkinder, die aufgeklärt gehören?

Mathias Jung: Da gibt es einiges: Einzelkinder seien Egoisten, rücksichtslos und ohne soziale Bindungen. Dabei lernt auch ein Einzelkind teilen, es verbündet sich mit anderen Kindern. Es kommt daher viel mehr auf die Erziehung und auf das Umfeld an. Wächst das Kind in einem kinderlosen Umfeld auf, oder hat es Ersatzgeschwister?

Woher kommen diese Vorurteile eigentlich? Vor 100 Jahren wurde das Einzelkinddasein ja sogar noch als Krankheit bezeichnet.

Das spiegelt die Lage der damaligen Psychoanalytiker wider, die fast alle in kinderreichen Familien aufgewachsen sind. Heute haben wir eine ganz andere Realität. Die demografischen Änderungen mussten auch von der Tiefenpsychologie reflektiert werden.

Nun liegt die Zweikindfamilie im Trend.

Nach wie vor herrscht die Einstellung, dass es ideal ist, wenn ein Kind einen Spielkameraden hat. Wer Geschwister hatte, der ist in der Regel dankbar für den Rückhalt, den man untereinander bekommen hat.

Müssen Einzelkinder also etwas nachholen?

Also mir haben Einzelkinder immer wieder gesagt, dass sie sich zwar Geschwister gewünscht haben, im Gegenzug aber unglaublich gefördert wurden, weil ihnen quasi jeder Wunsch von den Lippen abgelesen wurde.

So viel Aufmerksamkeit ist nicht immer gut.

Der Erwartungsdruck der Eltern ist natürlich oft enorm. Das äußern viele im Nachhinein kritisch: Wehe, sie hätten nicht funktioniert. Weil, wenn es nur ein Kind gibt, dann muss es gleich ein Traumkind sein. Bei Geschwistern ist man entspannter. Da ist halt das eine praktischer veranlagt als das andere.

Sind Einzelkinder erfolgreicher?

Ich glaube schon. Weil sie nicht kämpfen mussten. Weil sie so viel beachtet wurden, haben sie in der Regel ohnehin ein besseres Selbstbewusstsein. Während Geschwisterkinder oft mühsam um ihre Position ringen müssen.

Gibt es Rückschlüsse auf psychische Störungen und wie man aufwächst?

Einzelkinder neigen zu Abweichungen und neurotischem Verhalten. Weil Geschwisterkinder wie Kieselsteine aneinander abgeschliffen werden. Das ist eine natürliche Korrektur. Die sagen gleich: „Du tickst nicht richtig.“

Wird diesem Thema nicht zu viel Raum gewidmet? Man hat das Gefühl, dass ein Problem gemacht wird, wo gar keines ist.

Nein, dem muss ich widersprechen. Ob man als Einzelkind oder Geschwisterkind aufwächst, hat für uns als Erwachsene eine große Bedeutung, weil sich ganze Lebens- und Verhaltensweisen in der Zeit festsetzen.

Welche? Gibt es da ein erkennbares Muster?

Erstgeborene sind oft Alphatiere, die durchsetzungsstark sind. Sie übernehmen früh Führungspositionen. Und wir wissen zum Beispiel, dass Mädchen, die mit Brüdern aufwachsen, ein realistisches Männerbild haben. Umgekehrt lernen Brüder an einer Schwester die Andersartigkeit des weiblichen Lebensentwurfs.

Was zeichnet ein Sandwichkind aus?

Sie sind arme Teufel. Sie sind eingeklemmt zwischen dem Stammhalter und dem jüngeren, der im Zweifelsfall den Welpenschutz hat. Nicht selten sind sie Schattenkinder.

Heißt es nicht, dass die mittleren auch die Kreativen sind?

Man kann stets nur von Trends sprechen, nicht von fixen Rollen oder Gesetzen. Und was ein Kind prägt, das sind ja nicht nur die Eltern, sondern auch die Schule, das Umfeld, da gibt es unendlich viele Einflüsse.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.02.2013)

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