Dunaújváros: Eine ungarische Retortenstadt für Stalin

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1949 beschloss die Kommunistische Partei Ungarns, im Dorf Dunapentele ein Stahlwerk samt Wohnsiedlungen für die Arbeiter zu errichten. Die Stadt soll Sztálinváros heißen – Stalinstadt.

Die Stadt hätte eigentlich viel südlicher liegen sollen. Bei Mohács, direkt an der Grenze zu Titos Jugoslawien. Da die Beziehungen der ungarischen Kommunisten zu Marschall Tito jedoch alles andere als freundschaftlich waren, wurde Ende des Jahres 1949 das Dorf Dunapentele 70 Kilometer südlich der Hauptstadt Budapest auserkoren. Hier sollte sie also entstehen, die erste sozialistische Stadt in Ungarn, Sztálinváros - Stalinstadt.

In der ehemaligen Stalinstraße, der Hauptallee, steht Imre Szabó und zeigt auf seinen Arbeitsplatz: die Stadt selbst. Szabó ist der Chefarchitekt und als solcher für Neubauten, Renovierungen und Denkmalpflege zuständig. Dass nur debile Touristen diese Retortenstadt besichtigen wollen, wie es ein ungarischer Historiker einmal behauptet hat, davon will Szabó freilich nichts wissen. Tatsächlich hat sich Sztálinváros in seinen bisher 60 Lebensjahren zu einem stadtplanerisch ausgefallenen, durchaus kuriosen Artefakt entwickelt. Heute zählt die Stadt rund 48.000 Einwohner, heißt seit 1961 Dunaújváros (Neustadt an der Donau) und die ehemalige Stalinstraße heißt Vasmu utca (Stahlwerkstraße). Aber der Reihe nach.

"Stalinstraße" führt zur Stahlfabrik

Die Errichtung Sztálinváros stand ganz im Zeichen jener kommunistischen Planstädte, die mitsamt einem neuen Industriewerk errichtet wurden. Während der 1930er- und 1940er-Jahre entstanden mehr als 1000 Industriestädte in der Sowjetunion, in den sozialistischen Ländern Osteuropas waren es rund 120 - beispielsweise Nowa Huta (Polen) und Eisenhüttenstadt (DDR). Die meisten Städte hatten eines gemeinsam: Sie waren Arbeits- und Wohnplatz für die Arbeiter und ihre Architektur war die des sozialistischen Realismus/Klassizismus. Auch in Sztálinváros hatte man Großes vor: Die Prachtallee ­- die Stalinstraße - sollte die Wohnhäuser mit der neuen Stahlfabrik verbinden, in der Allee selbst sollten Statuen von Arbeitern der Stachanow-Bewegung aufgestellt werden (benannt nach dem Minenarbeiter Alexei Grigorjewitsch Stachanow wurden hierbei die fleißigsten Arbeiter ausgezeichnet; ein Instrument der Sowjets, um die Produktivität zu steigern). Das Stadtzentrum sollte indessen eine zehn Meter große Stalin-Statue dekorieren.

Der Architekt Sztálinváros, Tibor Weiner (1906-1965), musste sich während der gesamten Bauzeit in Improvisation üben. Zum einen zeigte sich die unregulierte Donau nicht sehr kooperativ, die Errichtung von Dämmen verschlang Unsummen. Dann, nur zwei Jahre nach Baubeginn, starb Stalin (1953). Statt der großen Stalin-Statue wurde daher eine kleine Lenin-Statue aufgestellt, auf die Stachanow-Statuen wurde offenbar ganz verzichtet. Das geplante Stadtzentrum wurde nach dem Tod des sowjetischen Diktators ebenfalls nicht realisiert. Noch heute hat Dunaújváros keine Stadtmitte, keinen kommerziellen oder sozialen Mittelpunkt. Ein neues Projekt, das Szabó initiiert hat, soll dieses „Problem", wie er sagt, beheben. Die von der EU finanziell unterstützten Revitalisierungsarbeiten, die einen Teil von Vasmu utca beleben sollen, beginnen noch heuer. Das im Stil des sozialistischen Realismus errichtete Theater mit den Säulen am Eingang und dem bunten Glaskuppeldach wurde bereits vor ein paar Jahren instand gesetzt. Das alte Kino aber - ein quadratischer, nicht unsympathischer Klotz mit riesigen Fenstern - wird noch eine Weile vor sich hin vegetieren müssen. Für die Renovierung fehle das Geld, sagt Szabó.

Sozialistischer Realismus weicht Plattenbauten

Der Tod Stalins hatte auch Auswirkungen auf den Baustil: Der sozialistische Realismus wich den modernen, simpleren (Platten-)Bauten. Heute sieht das so aus: Auf der einen Seite stehen die schlammbraunen Bauten des sozialistischen Realismus mit ihrem modrigen Charme, auf der anderen Seite die Platten in durchaus schrillen Farben. Während die älteren Bauten als geschlossene Komplexe mit Innenhöfen konzipiert wurden, dehnen sich die Plattenbauten in vertikaler Linie aus.

Tibor Weiners ursprünglichen Plänen kamen übrigens nicht nur Stalins Tod, sondern auch die neuen Einwohner in die Quere. Sein Stadtplan sah eine Population von 25.000 vor, nur lebten bereits ein Jahr nach Baubeginn 40.000 Menschen in Sztálinváros. Der enorme Bevölkerungszuwachs führte zu einer hektischen, improvisierten Bautätigkeit, die stetig fortgesetzt wurde (im Jahr 1980 lebten hier bereits 60.700 Menschen). Sie alle wohnten auf durchschnittlich 55 Quadratmetern, denn die meisten Wohnungen waren und sind ungefähr gleich groß. Vor allem während der Entstehungsjahre waren die Häuser in Sztálinváros besser ausgestattet als jene im restlichen Ungarn, heute bräuchten aber viele Bauten dringend eine Generalsanierung, sagt Szabó.

„Weiner Neustadt"

Der industrielle Charakter von Dunaújváros ist auch heute noch Programm. Viele Einwohner arbeiten nach wie vor in der Stahlfabrik im Süden der Stadt - und erst vor vier Jahren hat hier der österreichische Industrielle Thomas Prinzhorn eine Papierfabrik eröffnet. Dass die Stadt aber sukzessive schrumpft und es vor allem junge Menschen sind, die wegziehen, bedauert Szabó. Zwar gibt es eine Hochschule in Dunaújváros, aber das war es dann auch schon. Das touristische Potenzial werde ebenfalls nicht ausgeschöpft, obwohl die Stadt für Geschichts- und Architekturinteressierte durchaus spannend sein könnte. Ein (einziges) Hotel gibt es hier jedenfalls.

Im Übrigen ist es wohl eher dem Nachnamen des Architekten Tibor Weiner geschuldet als der Ähnlichkeit mit der österreichischen Stadt Wiener Neustadt, dass Sztálinváros von manchen Zeitgenossen Weiners auch „Weiner Neustadt" genannt wurde.

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