Österreich im März 1938: „Der Teufel regiert“

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In „Nacht über Österreich“ präsentiert die Nationalbibliothek den Anschluss anhand hauseigener Dokumente und der Schicksale von Vertriebenen – ein Plädoyer für die Gedächtniskultur an einem zentralen Ort.

Die kleine Tafel an einem Gitter in Wien warnt unverhohlen vor Verfolgung: „Juden betreten diese Parkanlage auf eigene Gefahr“, steht am Eingangstor. Als dieses Foto im Juni 1938 gemacht wurde, waren die meisten Gegner des Nazi-Regimes, das zuvor am 12.März in Österreich die Macht übernommen hatte, bereits auf der Flucht oder inhaftiert, jedenfalls aber zur Jagd freigegeben, wie das Bild in der Ausstellung der Österreichischen Nationalbibliothek enthüllt. „Nacht über Österreich. Der Anschluss 1938 – Flucht und Vertreibung“ zeigt mit rund 200 Exponaten beängstigend direkt, was damals geschah, sozusagen vor Ort. Der Eingang der Bibliothek liegt am Heldenplatz, wo Hitler am 15. März 1938, geschickt inszeniert, von einer begeisterten Masse empfangen wurde.

Das Geschehen rund um dieses historische Datum wird aus verschiedensten Perspektiven gezeigt. So kann man die Huldigung des Dichters Josef Weinheber an den heimgekehrten Führer Hitler finden wie auch das Entsetzen der Autorin Hilde Spiel: „Es ist alles hässlich und unerträglich. Die Eltern sitzen im Feuer. Der Teufel regiert“, schrieb am 13.März 1938 die 26-jährige Intellektuelle, die bereits 1936 ins Exil nach London gegangen war, weil sie den Antisemitismus in Wien nicht aushielt.

Karl Heinrich Waggerl hingegen, der Salzburger Heimatdichter, schrieb gleichzeitig euphorisch pro Anschluss: „Mögen alle Sünden verziehen sein, nur die eine nicht: Jetzt noch zu zweifeln oder zu verneinen.“

Und immer wieder der Heldenplatz

Die Schau im Prunksaal ist in zwei klar abgegrenzte Abschnitte eingeteilt: Auf der linken Seite gibt es, ausgehend vom Ende des Ersten Weltkrieges, 1918, die Geschichte des Anschlusses zu sehen, zumeist Fotos, sowie ein wenig Material zur Aufarbeitung dieses Traumas in der Nachkriegszeit, zudem kurze Videos zum „Heldenplatz“, sowohl das Gedicht von Ernst Jandl 1962 als auch das Stück von Thomas Bernhard 1988.

Auf der rechten Seite werden Einzelschicksale dokumentiert – 15 Porträts, vor allem von Vertriebenen, deren Nach- bzw. Vorlass sich in der Bibliothek befindet, darunter auch eine lebende Künstlerin. Diese Ankäufe und auch die Schau begründete Generaldirektorin Johanna Rachinger am Mittwoch im Pressegespräch damit, dass die ÖNB eine zentrale Gedächtnis-Institution des Landes sei, der Anschluss sei bis heute ein tiefer Einschnitt in unserer Geschichte. Die Aufarbeitung gegen das Vergessen habe spät begonnen, man habe einen bequemen Opfermythos gepflegt. Es sei aber vonnöten, den ungeheuren kulturellen Rückschlag bewusst zu machen, den Hitlers Machtergreifung bedeutete.

Zu den Exilanten, die mit ihrem Schicksal in Wort und Bild porträtiert werden, gehören die Dichter Robert Neumann, Elazar Benyoëtz und Erich Fried sowie die Komponisten Erich Wolfgang Korngold, Hans Gál und Egon Wellesz. Korngold hatte in Hollywood eine zweite große Karriere. Er kehrte 1949 nach Europa zurück, war aber verbittert über die Probleme beim Kampf um sein von den Nazis geraubtes Eigentum und zog erneut in die USA.

Susanne Schüller hingegen, die sich als Malerin Soshanna nennt und den Anschluss als elfjähriges Kind durchlitt, lebt nach Jahrzehnten des Exils wieder in Wien. Sie wurde als Ehrengast zur Eröffnung eingeladen.

Einen zentralen Platz in der Schau nimmt Berta Zuckerkandl-Szeps ein. Nach der Flucht 1938 hatte die berühmte Salondame in Paris mit ihren Memoiren begonnen: „Ich erlebte 50 Jahre Weltgeschichte“. Von Frankreich ging es 1940 weiter ins Exil, nach Algier. Von dort schrieb sie, bereits sterbenskrank, an ihren Freund Csokor: „Ich bin stolz auf Sie, weil Sie einer der wenigen waren, die nicht bei Hitler in Wien geblieben sind, obwohl Sie es als Arier hätten tun können...“ (Das Buch „Berta Zuckerkandl – Flucht! Von Bourges nach Algier im Sommer 1940“ ist soeben mit ausführlichem Kommentar bei Czernin erschienen.)

Abenteuerlich war auch, was damals dem Schriftsteller Albert Drach widerfuhr, der sich gegen die Opferrolle mutig sträubte. In Nizza wurde er von den Kollaborateuren des Vichy-Regimes mehrfach verhaftet. Man mutmaßte, dass er Jude sei. Drach legte den Behörden einen Heimatschein vor, auf dem die Abkürzung „I.K.G.“ (für Israelitische Kultusgemeinde) stand. Das bedeute „Im Katholischen Glauben“, behauptete Drach gegenüber dem Beamten – diese Übersetzung bewahrte den Emigranten wahrscheinlich vor der Deportation. 30 Jahre später schrieb er über den März 1938: „Und als der Tag kam, als die Nazis Österreich nahmen, weil es sich gern von ihnen nehmen ließ, dachte ich nicht daran, das Land zu verlassen, das ich noch immer für meine Heimat hielt...“

Friedell stürzt sich vor den Nazis in den Tod

Man erfährt auch das Schicksal des großen Kulturhistorikers Egon Friedell: Er stürzte sich aus dem dritten Stock in den Tod, als SA-Männer in seine Wohnung in der Gentzgasse eindrangen. Neben einem Familienfoto sieht man die Bestätigung aus Kufstein, dass „die Villa Fridell (sic!) vom SS-Sturmbann II/87 am 12.März 1938 in Verwaltung genommen“ wurde. Daneben steht ein Abreißkalender aus dem Studierzimmer: Mittwoch, 16.März 1938. Friedells Todestag.

Zu sehen bis 28.April in der Österreichischen Nationalbibliothek, Josefsplatz1. Der Ausstellungskatalog dazu (herausgegeben von Kurator Bernhard Fetz u.a.) ist im Residenz Verlag erschienen: 176S., 19,90Euro.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2013)

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