Der ''Anschluss'' 1938: Ein Blick zurück nach 75 Jahren

Gastkommentar: Weniger die Tatsache der Einverleibung Österreichs in das Deutsche Reich als die brutale Art der Durchführung schockierten das Ausland.

Die Bilder vom Einmarsch deutscher Truppen in Österreich (und ihrem begeisterten Empfang, dem „Blumenfeldzug“) überlagerten, dass das Geschehen des März 1938 aus der Kombination dreier, eng verbundener Abläufe bestand: Am 11. März erfolgte die Machtübernahme, am 12. März der militärische Einmarsch und schließlich am 13.März der formale Anschluss. Gerhard Botz sprach daher vom „dreifachen Anschluss“ – „von unten“, „von außen“ und „von oben“.

Am 11.März genügten die Drohung mit einem militärischen Einmarsch und der Druck der österreichischen Nationalsozialisten, auf Landes- wie auf Bundesebene den Machtwechsel zu erzwingen. Schuschnigg beugte sich der Gewalt und befahl dem Bundesheer, keinen Widerstand zu leisten. Die an der Grenze aufgezogenen Sperrkommandos wurden wieder zurückgezogen (lediglich jenes am Fernpass konnte nicht erreicht werden und blieb noch zwei Tage in Stellung).

Hätte sich die neue Regierung unter Dr. Arthur Seyß-Inquart auch ohne einen deutschen Einmarsch halten können, oder wäre es zu einem Bürgerkrieg in Österreich gekommen? Die Frage ist müßig, denn der Reichsführer-SS Heinrich Himmler stand bereit, das Land mit Polizei- und SS-Verbänden zu besetzen. Damit wollte er die Position seiner SS innerhalb des NS-Machtapparats stärken.

Görings Blick auf Goldreserven

Sein Rivale Hermann Göring aber setzte sich mit der Forderung nach einem militärischen Einmarsch durch – als Beauftragter für den Vierjahresplan hatte er die Goldreserven der Oesterreichischen Nationalbank im Visier.

Der Einmarsch – in aller Eile improvisiert – war daher gewissermaßen der „zweite Akt“. Die zahlreichen Pannen (von den Schwierigkeiten mit der in Ostösterreich geltenden Linksfahrordnung bis zur Treibstoffversorgung) sind bekannt, konnten aber rasch bewältigt und sollten daher in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden.

Generalleutnant Heinz Guderian sah sich in seiner Vorstellung des Einsatzes schneller, motorisierter Truppen bestätigt, wie sie dann zum Charakteristikum der Blitzkriege wurden. Die ersten Verbände der 2. Panzerdivision erreichten in der Nacht zum 13. März Wien, während die bayerische 7. und 10. Infanteriedivision langsam nach Osten marschierten und die Gebirgsdivision in Salzburg und Tirol einrückte.

Begleitet war dieser „Einsatz Österreich“ (wie er offiziell hieß) von einem in dieser Dimension erstmaligen Einsatz der Luftwaffe: 360 Flugzeuge warfen Millionen von Flugblättern ab, Truppen landeten in Wien, Graz und Klagenfurt. Insgesamt waren rund 850 Maschinen an diesen Transport- und Propagandaflügen beteiligt.

Noch eine „Begleiterscheinung“ dieser Operation war „zukunftsweisend“: Mit der Wehrmacht rückten auch Marschgruppen der Ordnungspolizei und der SS in Österreich ein – Vorboten künftiger „Einsatzgruppen“ der Polizei und der späteren Waffen-SS im „Weltanschauungskrieg“ im Osten. Die Gesamtzahl der am „Einsatz Österreich“ beteiligten Formationen des Heeres, der Luftwaffe, der Polizei und der SS dürfte rund 150.000 Mann betragen haben.

Verbleibt das dritte Element des März 1938, der Anschluss selbst. Hitler dürfte sich erst am Nachmittag des 12. März, als er selbst nach Österreich kam, entschlossen haben, die Annexion sofort durchzuziehen. Staatssekretär Dr. Wilhelm Stuckart (einer der Verfasser der Nürnberger Rassegesetze und später Teilnehmer an der Wannsee-Konferenz) wurde nach Linz beordert, um den Text des „Wiedervereinigungsgesetzes“ auszuarbeiten, das am 13. März zugleich als deutsches Reichs- und als österreichisches Bundesgesetz beschlossen wurde.

Der Druck Berlins alarmierte

Die Bestätigung durch die Volksabstimmung am 10. April war nur noch Formsache. Diese Abstimmung wurde übrigens sowohl in Österreich wie im „Altreich“ abgehalten. Deutsche im Ausland wurden teilweise mit Sonderzügen zur Abstimmung in grenznahe Städte befördert, während Deutsche in Übersee auf Schiffen vor der Küste abstimmen konnten.

Weniger die Tatsache des Anschlusses selbst als die brutale Art seiner Durchführung bestimmten seine Bewertung im Ausland. Mit einer friedlichen Revision der Bestimmungen der Friedensverträge von Versailles und St. Germain hätte man sich ja abfinden können – aber der politische Druck, den Berlin am 11. März auf Wien ausgeübt hatte, alarmierte.

Frankreich und Großbritannien protestierten sofort dagegen, begnügten sich freilich mit Worten. Noch im September 1938 hoffte man, mit einem Kompromiss – der Abtretung der deutschsprachigen Randgebiete der Tschechoslowakei im Münchner Abkommen – die Krise in Mitteleuropa entschärfen zu können.

Weg in den Zweiten Weltkrieg

Durch den Anschluss Österreichs hatte sich die strategische Position des Deutschen Reiches deutlich verbessert – vor allem hinsichtlich der Tschechoslowakei, aber auch im Hinblick auf künftige Ambitionen in Richtung Südosteuropa. Im Süden hingegen verzichtete Hitler Benito Mussolini gegenüber auf etwaige Ansprüche auf Südtirol und anerkannte damit den Alpenhauptkamm als Grenze der Machtbereiche der beiden „Achsenmächte“: Der Mittelmeer- und arabische Raum galten als italienische Einflusszone, während das Dritte Reich seinen künftigen „Lebensraum“ im Osten sah.

Der Einmarsch machte noch etwas deutlich: Nach der Blomberg-Fritsch-Krise Anfang Februar 1938 hatte Hitler persönlich den Oberbefehl über die Wehrmacht übernommen. Im März trug der Führer und Reichskanzler bereits das goldene Eichenlaub der Generalität an der Mütze und zeigte damit, dass er nunmehr selbst und direkt die bewaffnete Macht des Dritten Reiches befehligte.

Das Oberkommando der Wehrmacht bezeichnete den „Einsatz Österreich“ am 24. März 1938 als „das klassische Beispiel einer mit neuzeitlichen Methoden unter starkem Einsatz militärischer und propagandistischer Mittel durchgeführten Politik“. Dass dieser Weg letztlich in den Zweiten Weltkrieg führen würde, ahnten 1938 wohl nur wenige.

„...wie einst schon Napoleon“

Zu ihnen gehörte Major Truman Smith, der US-Militärattaché in Berlin, der in seinem Bericht nach Washington am 28. März die prophetische Frage stellte, ob Hitler in der Lage wäre, das neu gewonnene Selbstvertrauen der Deutschen zu zügeln „... oder würden sie ihn, wie einst schon Napoleon, zuerst zu Eroberungen, aber letztlich zum Untergang in Moskau und Waterloo führen? (...) Napoleon und Hitler sind Genies. Napoleon aber scheiterte, weil es ihm nicht gelang, seine Ziele zu beschränken und er das Unmögliche anstrebte – die Herrschaft über ganz Europa. Man wird sehen, ob Hitler seine Absicht, die er (in seiner Reichstagsrede) am 20. Februar angekündigt hatte, verwirklichen wird, nämlich die deutschen Ambitionen weise zu beschränken.“


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Zum Autor

Univ.-Doz. Dr. Erwin A. Schmidl (*1956) leitet den Fachbereich Zeitgeschichte des Instituts für Strategie und Sicherheitspolitik der Landesverteidigungsakademie in Wien und lehrt an den Universitäten Innsbruck und Wien. Sein Standardwerk zum deutschen Einmarsch erschien 1994 in 3. Auflage (Verlag Bernard & Graefe). [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2013)

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