Über Nacht waren sie alle beim „Bund deutscher Mädel“

'Der Untergang Österreichs'
'Der Untergang Österreichs'(c) ORF (Historisches Archiv Orf)
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Die unpolitische Schuljugend in Wien wurde sofort für das NS-Regime rekrutiert.

Im Herbst 1933 trat die neunjährige Elisabeth Glück in die erste Klasse der Bundeserziehungsanstalt für Mädchen in der Boerhaavegasse im dritten Wiener Bezirk ein. In der ehemaligen kaiserlichen Landwehr-Kadettenschule war noch die Winterreitschule des Militärs mit ihrem Sandboden intakt, und das Denkmal Franz Josephs stand mitten im Park. Bis 1974 übrigens.

„Aus der Reitschule wurde zu jener Zeit eine Kirche gestaltet“, erzählt die alte Dame, die eine journalistische Karriere in der „Weltpresse“, dann im Kulturteil der „Arbeiter-Zeitung“ hinter sich hat.

Elisabeth, „Lilly“, erlebte also die Zeit des österreichischen „Ständestaats“, abgeschottet von Zeitungen, Radio und jeglicher politischer Erziehung, in dem sehr streng geführten Internat. „Wir durften nur ein Mal im Monat nach Hause, und wenn man schlimm war, gar nicht.“

Die Mädchen trugen die Abzeichen der Staatsjugend, sahen den „winzig kleinen Kanzler Dollfuß im Praterstadion“, mussten winken und schreien, lernten nach dessen Ermordung das Dollfuß-Lied: „Ihr Jungen schließt die Reihen gut, ein Toter führt uns an, er gab für Österreich sein Blut, ein wahrer deutscher Mann...“

Aber von Hitler wussten sie so gut wie nichts.

13. März 1938. Lilly Glück schreibt ihrer Mutter nach Mauer: „In der BEA geht es jetzt drunter und drüber. Ich will gleich mit dem Wichtigsten beginnen: Unser Direktor wurde abgedankt, ebenso die Direktorin der Erzieherinnen.“ Dann folgt eine lange Liste von Lehrerinnen und Lehrern, die ebenso bereits am ersten oder zweiten Tag nach dem Einmarsch gehen mussten. Statt ihrer kamen solche, die in der „schwarzen Ära“ wegen Nazi-Betätigung strafweise in eine Judenschule versetzt waren, aber auch ganz junge. An Unterricht war in dem Chaos sowieso nicht zu denken.

Lilly schreibt weiter: „Heute sind wir schon alle „BDM“-Mädchen („Bund Deutscher Mädel“, Anm.). Eine weiße Bluse hatte fast jede, und einen dunklen Rock auch. Der Schulwart sagte, dass sich die „BDM“-Mädchen um 18 Uhr bei der Rochuskirche versammeln. Im Dauerlauf ging es dorthin. Kannst Dir vorstellen, wo wir bis jetzt immer eingesperrt waren, jetzt die Freiheit!

Dann marschierten wir in tadellosen Sechserkolonnen die Landstraße entlang, dann längs der Wien bis zur Urania, von dort aus in Dreierkolonnen durch die Rotenturmstraße, die Innere Stadt, durchs Burgtor über den Ring zum Maria-Theresien-Park. Dort hieß es warten. Es war wahnsinnig kalt, und wir durften keine Mäntel anhaben.“

Frierender Aufputz für Schirach

„Dann bekamen wir Fackeln und marschierten nun wieder zu sechst über den Ring zum Burgtor und auf den Heldenplatz. Dort haben wir entsetzlich gefroren, und Du kannst Dir denken, was ich für einen Hunger gehabt hab. Endlich kam der Reichsjugendführer Baldur von Schirach und hielt eine Ansprache. Der Heldenplatz war ganz hell erleuchtet, denn in Reih und Glied standen die Fackelträger hintereinander. Erst gegen Mitternacht kamen wir endlich vom Heldenplatz weg.

Dann ging es noch auf den Hof, wo wir den Schirach nochmals sahen, im Auto stehend. Dann ging es endlich in die BEA zurück, wo wir um zwei Uhr früh todmüde ankamen.“

Dienstag, 15.3.:

„Wir standen erst um halb neun Uhr auf. In der Früh gab es ja keine Pflichtmesse mehr, kein Knien die ganze Messe durch, kein Morgen- und Abendgebet und natürlich auch nichts zum Essen. Dafür werden irgendwelche deutsche Sprüche vorgelesen, zum Beispiel von Hindenburg oder Horst Wessel etc. Gleich nach dem Essen marschierten wieder alle in die Stadt und auf möglichst umständliche Weise auf den Ring. Wir kamen vor dem Stadtpark zu stehen und hatten von der ganzen Truppenparade nichts, nur die Flieger sahen wir, die in riesigen Staffeln über uns flogen. Manche waren ganz hoch oben und flogen übereinander, andere machten auch Purzelbäume. Dafür rügte die neue Erzieherin eine Gruppe, die nicht genug jubelte, wenn es auch nichts zum Jubeln gab. Als wir schon wieder in der BEA waren und ausgezogen, telefonierte der Schulwart, dass der Führer über den Rennweg zum Zentralfriedhof fahre. Sofort zogen sich alle wieder an und stürmten, eine wilde Horde, zum Rennweg. Dort sagte uns ein Wachmann, dass der Führer schon vor einer halben Stunde vorbeigefahren sei. „Aber er so tiaf im Wagen g'sessen, dass ma eam gar net g'sehen hat“, tröstete er uns [...].

Donnerstag, 17.3.:

„Du wirst Dir ja vorstellen können, dass ich gar kein Geld mehr habe: Ein „BDM“- und ein Hakenkreuzabzeichen 50 Groschen, für die Blumen 40 Groschen, und so geht das weiter. [...] Nachmittag waren wir im Gartenbaukino bei „SA-Mann Brand“. Es war sehr aufregend, gegen die Kommunisten und so. Wir dürfen jetzt in jedes Kino gehen, nicht wie früher nur in die Urania.“

Lilly Glück wird bald verdächtigt, nicht „rein arisch“ zu sein. Schon allein der Name, und dann auch noch die schwarzhaarige Mutter, die Perserin war...

Samstag, 30. April:

„Wie ich gefürchtet und vorausgeahnt habe, muss ich diesen Ariernachweis bringen. Das Unangenehme war nur, dass ich deswegen zur neuen Erziehungsleiterin gehen musste, um ihr den ganzen Stammbaum zu erklären. Sie war ganz nett und sagte, ja, die Perser sind schon Arier. Aber damit ist noch lange nicht gesagt, dass mein Großvater Arier war...“

Sind die Perser Arier?

„Mama, Du musst gleich nach Berlin schreiben um den Beweis, dass die Perser erst seit Kurzem Dokumente haben und dass sie Arier sind. Dann schicke gleich die Abschrift Deines Tauf- und Trauscheins.

Stell Dir nur vor, das RIII (Radetzky-Gymnasium) wird eine Judenschule. Die arischen Schülerinnen von dort kommen jetzt zu uns und umgekehrt.

Weißt Du was? Ich darf das „BDM“-Abzeichen tragen, aber nur außerhalb der BEA, denn da kennt mich niemand!!!

Bei der letzten Konferenz wurde beschlossen, die BEA soll jetzt noch viel strenger werden. Unsere Anstalt soll auf „Hitlerjugend BDM“ aufgebaut werden. Wenn es alle Kinder, die austreten wollen, wirklich zu Hause durchsetzen, bleiben fürs nächste Jahr vielleicht gerade zehn übrig.“
*

Damit enden die Briefe von Lilly Glück aus der BEA. Sie erbrachte keinen Ariernachweis und trat aus. Aus der BEA wurde eine „Nationalpolitische Erziehungsanstalt“ („Napola“).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2013)

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