Zehn Jahre nach dem Einmarsch: Der total gescheiterte Staat Irak

Die Intervention westlicher Truppen am 20.März 2003 brachte dem Irak keine Demokratie, dafür der Bevölkerung pure Enttäuschung.

Alles, was die US-Propaganda den Irakern nach dem 20.März 2003, dem Tag des Einmarsches der amerikanischen und britischen Truppen, verkündete, war leeres Gerede! Insbesondere die Neokonservativen, die ihnen versprachen, die Demokratie werde den Irakern eine moderne, gut funktionierende Wirtschaft, dauerhaften Frieden, ein Leben in Sicherheit bringen und alles ermöglichen, was ihnen in 35 Jahren der eisernen Herrschaft Saddam Husseins und seiner Partei gefehlt hatte – alles war leeres Gerede!

Letztendlich sind beide Seiten gescheitert: die Amerikaner, die den Irakern keineswegs beim Aufbau der Demokratie halfen, sondern einen Gesandten, Paul Bremer, einsetzten – den Verwalter des Irak, oder den „Imperator“ (wie die Iraker ihn nannten). Bremer tat alles Mögliche, was Anarchie und Zerstörung verbreitete, angefangen bei seinem Erlass zur Auflösung des Militär- und Polizeiapparats bis hin zur Einrichtung eines Regierungsrates, dessen Vorsitz monatlich in alphabetischer Reihenfolge neu besetzt wurde.

Und die Iraker selbst, die ihr Ziel auch nicht erreichten: nämlich eine Demokratie zu errichten, die mit dem politischen Erbe des Irak radikal bricht und den Menschen ein Leben in Frieden und Wohlstand sichert, nachdem die Diktatur mit ihren endlosen Kriegen der letzten 30 Jahre dieses an Erdöl und anderen Ressourcen so reich gesegnete Land völlig ausgelaugt hatte.

Inhaltslose Lügenmaschinerie

Die Bilanz von zehn Jahren ist pure Enttäuschung. Die Verfassung, für die die Iraker gestimmt haben, ist lediglich ein fader, blasser Kaugummi, auf dem Politiker und selbst ernannte Vertreter der Konfessionen und Nationen in ihren Streitigkeiten ständig herumkauen; eine inhaltlose Lügenmaschinerie von Paragrafen, denen niemand große Aufmerksamkeit schenkt. Es ist auch eine traurige Wahrheit, dass die jetzige Regierung, die per Kaiserschnitt nach achtmonatigen Verhandlungen zur Welt kam, sich hinsichtlich der ihr zugestandenen Befugnisse in nichts von den letzten Regierungen unterscheidet – ja sie verfügt sogar über noch weniger Handlungsspielraum.

Dies liegt nicht nur an den Kontroversen, die sich um die Regierungsbildung entzündet hatten (im Übrigen eine große Enttäuschung für die Iraker, die trotz Terrors und paramilitärischer Banden ihr Leben riskiert hatten, um den dritten, vermeintlich freien Wahlen im Irak nach 2003 zum Erfolg zu verhelfen). Die Schwäche der neuen Regierung ist vielmehr auf die politische (Un-)Kultur der Regierungsmitglieder zurückzuführen.

Es stand zu erwarten, dass Auseinandersetzungen entbrennen würden. Daher hätten die politischen Kräfte im Land unter den jetzigen außergewöhnlichen Umständen eigentlich ebenso außergewöhnliche Anstrengungen und ein ganz besonderes Verantwortungsbewusstsein an den Tag legen müssen. Stattdessen betrachten sie die Regierung als Beutestück, das es aufzuteilen gilt. Bis jetzt ist die Regierung nicht komplett. Aber sie hat 40 Ministerien.

Allein Nuri al Maliki hat drei Ministerien in seiner Hand: Innenministerium, Nationales Sicherheitsministerium und bis vor Kurzem auch das Verteidigungsministerium. Es ist schwer, für ein mit Überzahl belegtes Regierungskabinett seine Aufgaben zu erfüllen.

Es ist auch interessant zu wissen, dass der Irak das einzige demokratische (?) Land der Welt ist, das über keine Opposition verfügt. Gewinner und Verlierer der letzten Wahlen sitzen zusammen in der Regierung. Kein Gesetz wird im Parlament verabschiedet, ohne dass gleichzeitig ein anderes Gesetz als Gegengewicht verabschiedet wird. Das Prinzip lautet: Ich stimme für deinen Gesetzentwurf, du wiederum tust dasselbe bei meinem Gesetzentwurf. Das gleiche Prinzip gilt bei der Korruption. Ich helfe dir beim Rauben, du hilfst mir. Keine Rechenschaft. Das heißt, alle schweigen. Das heißt auch: Die Verteilung der Ministerien läuft nach diesem Muster.

Eine Mafia im Ministerium

Deshalb wollte auch niemand ein „Bagatell“-Ministerium mit niedrigem Budget wie das Kulturministerium. Zumindest galt das, bis Bagdad von der Unesco zur Kulturhauptstadt 2013 erklärt wurde.

Deshalb ist, im Gegensatz zur Kultur, das Elektrizitätsministerium schon immer das begehrteste Ministerium. Rund 27 Milliarden Dollar sollen für den Aufbau des Stromnetzes ausgegeben worden sein. Dennoch sind Stromausfälle immer noch Alltag. Wenn wir wissen, dass der Staat in den vergangenen neun Jahren 80 Milliarden Dollar für alle seine Bürger ausgegeben hat, können wir uns das Ausmaß an Korruption im Elektrizitätsministerium vorstellen. Der Grund sind Verträge mit Phantomfirmen und Provisionen, die eine Mafia im Ministerium verlangt hatte. Ist es nicht traurig, dass ein reiches Land wie der Irak, der die zweitgrößten Reserven der Weltölvorkommen hat, zu den gescheiterten Staaten der Welt gehört?

Justiz als Sklavin der Exekutive

Der Irak ist gescheitert bei der Verwaltung seiner Ressourcen – bis jetzt hat das Parlament kein entsprechendes Gesetz verabschiedet. Der Irak ist gescheitert bei der Festlegung einer Strategie, die die Rolle des Landes in der Region definiert, einschließlich der Außenpolitik. Der Irak ist gescheitert beim Aufbau der Infrastruktur, bei der nationalen Integration und bei der Neutralisierungsrolle des Staates im Falle von sozialen Auseinandersetzungen. Gescheitert bei der Etablierung eines Staatsmonopols der bewaffneten Gewalt. Denn seit Ende des Bürgerkrieges vor sieben Jahren bis heute wird das System von Law and Order, das die Verfassung garantiert hat, verletzt – sowohl von der politischen Macht als auch von illegalen bewaffneten Gruppen, die mithilfe politischer Kräfte ab und zu hervortreten.

Letztendlich ist der Irak auch bei der Trennung der drei Staatsgewalten gescheitert, die die Basis einer Demokratie ausmachen. Die Exekutive verfügt über die Justiz und machte sie zu ihrer Sklavin, während das gesetzgebende Parlament sich als Forum für Verleumdungen und Beschimpfungen der dort debattierenden Parlamentarier etabliert hat.

Auf der Schandliste

Der Irak, ein absoluter, gescheiterter Staat. Anders kann man den Staat, von dem die Iraker einst geträumt haben, nicht charakterisieren. Daher war zu erwarten, dass der Irak auf der Liste der zehn gescheiterten Staaten, die das US-Magazin „Foreign Policy“ und „The Found For Peace“ 2012 veröffentlichten, auf Platz neun gelandet ist. Die Länder vor dem Irak heißen: Somalia, Kongo, Sudan, Tschad, Simbabwe, Afghanistan, Haiti, Jemen.

Sollten die Wahlen in diesem Jahr, oder spätestens Anfang 2014, keine neuen politischen Verhältnisse und keine neue Regierung bewirken, die die Bekämpfung der Korruption zum obersten Ziel erklären, ist allerdings zu erwarten, dass der Irak bald auf den fünften Platz dieser Liste zurückkehrt, auf dem er schon 2007 gestanden war. Oder es kommt sogar noch besser, und der Irak landet auf dem ersten Platz. Noch vor Somalia...

Zum Autor


E-Mails an: debatte@diepresse.com

Najem Wali(*1956 in Basra) wurde vom Regime Saddam Husseins verfolgt. Nach Ausbruch des Iran-Irak-Kriegs flüchtete er 1980 nach Deutschland. In Hamburg und Madrid studierte er deutsche und spanische Literatur. Er arbeitet als Journalist, schreibt Romane und Erzählungen. Mitglied des PEN. [Privat]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2013)

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