"Die Kunst ist eine Lüge, die Wahrheit begreifen lehrt"

Kunst eine Luege Wahrheit
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Das "wahre Bild" ist ein Mythos der Kunstgeschichte. Genauso wie die Mär, dass Künstler immer die Wahrheit sagen und dass diese in der Schönheit zu finden sei. Was die Kunst heute aber wunderbar kann, ist, uns die Multidimensionalität der Wahrheit begreifbar zu machen. Bis zur Unerträglichkeit.

Wird es tatsächlich immer noch gesucht, das „wahre“ Bild, das „vera icon“, also ein Abdruck der Wirklichkeit, als der etwa das „Schweißtuch der heiligen Veronika“ verehrt wird? Das Turiner Grabtuch? Oder in der orthodoxen Kirche das Mandylion von Edessa?

Es sind Kultbilder, die uns glauben lassen, der Kunsthistoriker Hans Belting hat ihnen eine wunderschöne Kulturgeschichte gewidmet („Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen“). Die ihnen zugesprochene Objektivität, deutet er im Vorwort leider nur an, laste heute auf den Schultern der Fotografie. Dass diese nicht so recht tragen wollen, ist mittlerweile auch schon Kunst- bzw. Kulturgeschichte.

Wir kennen sie alle, die Geschichten des wundersam verschwundenen ungarischen Revolutionärs Tibor Szamuely, der auf einem Foto noch hinter Lenin stand, auf Stalins Befehl dann aber herausretuschiert wurde. Auch Maos Ehefrau wurde nach ihrem Tod von mehreren offiziellen Aufnahmen entfernt, einfach so. Und Robert Capas berühmte Fotografie eines gerade von einer Kugel tödlich getroffenen republikanischen Milizionärs im Spanischen Bürgerkrieg, eine „Ikone“ der Kriegsfotografie – es war Inszenierung! Ein „Fake“, nachgestellt auf freiem Feld, Kilometer entfernt von der Front. Was für eine Ernüchterung!

Die Wahrheit in der Malerei. Niemand aber kann Picassos „Guernica“ seine moralische Macht nehmen, seine Authentizität, seine Wahrhaftigkeit über die Gräuel des Krieges, nicht nur des Spanischen Bürgerkriegs, sondern des Kriegs im Allgemeinen. In der Moderne zählte nicht mehr der Abdruck der Wirklichkeit. Und auch nicht mehr die Gleichung Schönheit ist gleich Wahrheit. Jedenfalls nicht mehr in der Kunst. „Vielen gefallen ist schlecht“, schrieb gerade der heute einer absoluten Mehrheit gefallende Gustav Klimt seiner „Nuda Veritas“, seiner „Nackten Wahrheit“ über das, jawohl, schöne gelockte Antlitz. Die nackte Dame hält uns frontal einen Handspiegel entgegen, so wie Klimt uns einen vorhalten wollte in seinen für den damaligen Geschmack noch allzu nackten Allegorien für die Deckenbilder der Wiener Universität.

Niedergehen vor dem Naturerlebnis. Heute, in der Postpostmoderne, darf man an der Skepsis der Leute vor allzu großer Schönheit und allzu betonter Authentizität wieder zweifeln. Denkt man etwa an den Massenauflauf vor Olafur Eliassons vorgetäuschtem monumentalen Sonnenunter- bzw. Sonnenaufgang „The Weather Project“ in der Turbinenhalle der Tate Modern in London 2003. Es war eine Pilgerstätte, die zwei Millionen Besucher sind zum Teil nicht nur gekniet, sondern sogar am Boden auf dem Rücken gelegen, um sich selbst im Farbspektakel in der verspiegelten Decke betrachten zu können, in einem Phänomen, das sie jeden Tag in der Natur selbst erleben könnten. Oder der Aufstieg der dokumentarischen Kunst seit den 1990er-Jahren, von Künstlern, die sich als „visuelle Historiker“ begreifen, und hochglänzende, großformatige Fotografien entsetzlicher Kriegsruinen, Kriegsverbrechen etc. als „authentische“ Kunst verkaufen.

Womit wir wieder bei Picasso wären: „Wir wissen alle, dass Kunst nicht Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können.“

Wenn es wenigstens nur eine einzige Wahrheit gäbe, die wir begreifen müssten. Aber Künstler sind heute Meister darin, uns mit ausgefeilten Tricks die Multidimensionalität von Wahrheit unter die Nase zu reiben. Der israelische Künstler Omer Fast zum Beispiel. Seine Filmkabine im Aue-Parcours der Documenta 13 war eine besonders perfide Kammer der Verstörung. Eine Geschichte wurde hier mittels Films dreimal erzählt. Immer ein wenig anders. „Continuity“ zeigt ein (deutsches) Elternpaar, das ihren aus Afghanistan heimkehrenden Sohn vom Bahnhof abholt und ihn nach Hause bringt. Irgendwann versteht man vielleicht, dass alles nur ein Konstrukt ist, dass dieses seltsame Paar wechselnde Callboys engagiert, die ihren Sohn nur spielen. Man kann nichts mehr trauen, den Klischees, das wissen wir, aber auch nicht dem Medium und schon gar nicht dem Künstler. Und das ist gut so.

Strategie der Verwirrung. Denkt man etwa an Nedko Solakov, den Bulgaren, der auf der Documenta 12, 2007, einen unscheinbaren Karteikasten ausstellte, der angeblich seine gesammelten Informationen beinhaltete, die er als Mitarbeiter des bulgarischen Geheimdienstes über Kollegen etc. zusammengetragen haben will. Ob das „wahr“ ist oder nicht, hat er nie gelöst. Wir bleiben mit dem Dilemma des „guten“ und „bösen“ Künstlers über.

Gas in der Synagoge. Die Wahrheit in der Kunst ist an sich ein Dilemma. Wenn sie zu radikal in diese einbricht, wie bei den Wiener Aktionisten etwa, die Kunst und Leben gleichgesetzt haben, wird sie schnell unglaubhaft, im schlimmsten Fall, wie bei Otto Mühl, zum Verbrechen. Jedenfalls ist die Kombination Kunst und Wahrheit immer eine kritische, eine provokante im besten Fall, nur so kann sie uns aufrütteln, Diskussionen starten, uns mitten ins Herz treffen.

Etwa wenn Santiago Sierra in eine Synagoge in Deutschland Autogase einleitet und die Menschen mit Gasmaske durch das Entsetzen tapsen lässt. Wenn Gregor Schneider tatsächlich einen Sterbenden „ausstellen“ möchte, um diesen tabuisierten Akt wieder in die Mitte der Gesellschaft zu holen. Oder wenn Teresa Margolles eine von der Mutter übergebene Totgeburt in Beton gießt, sie zu einem Denkmal für alle Kinder verwandelt, die in Mexico City kein Recht auf Bestattung haben, wenn die Angehörigen kein Geld dafür aufbringen können. Margolles ist eine der heftigsten Künstlerinnen, die uns mit der Realität, mit der Wahrheit des Todes konfrontieren. Sie lässt uns durch Räume mit Seifenblasen aus Leichenwaschwasser gehen. Sie zeigt uns Leichentücher aus dem Leichenhaus in Mexico City, wo sie arbeitet. Sind das die „wahren Bilder“, ist das ein „vera icon“ unserer Zeit?

Auf jeden Fall gehören sie zu diesen Bildern, die der Philosoph Jacques Rancière beschreibt, die die Grenze überschreiten, die „vom Unerträglichen im Bild zum Unerträglichen des Bildes führen“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2013)

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