Pamina: "Die Wahrheit, sei sie auch Verbrechen"

Pamina Wahrheit auch Verbrechen
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Eine ganze Stilrichtung bekennt sich auf der Musiktheaterbühne zum "Verismo" – und ist nicht wahrhaftiger als Mozart, der im "Figaro" pianissimo selbst Beethovens Freiheitshymnen relativiert.

Verismo! Wer die legendäre „Bajazzo“-Inszenierung George Taboris in der Wiener Kammeroper erlebt hat, weiß, was das heißt – nie zuvor hat ein Publikum so in kollektiver Erleichterung aufgestöhnt: Canio holt zu den Worten „la commedia è finita“ das Mordopfer ins Schauspielerleben zurück.

So weicht die Wahrheit am Theater ihre Grenzen auf. Für einen Augenblick scheint der Tod lebendiger als die Theaterfiktion, in deren Bann Kinder den Kasperl so gern warnen, der gerade nach rechts schaut, wo doch das Krokodil von links kommt!

Im dringlichsten Fall weitet sich die Wahrheit vor unsern Augen in ungeahnte Dimensionen. Nur noch Musik vermag sie in fassbare Form zu zwingen. Auf dem Höhepunkt der Intrige im „Figaro“ wissen beispielsweise nur noch die Zuschauer, wer wirklich im Kämmerchen neben dem Salon verborgen ist. Wenn die Gräfin ihrem zürnenden Gatten die Wahrheit bekennt, lügt sie: Es kann ja nicht wahr sein, dass Susanna aus der Tür treten wird.

Kongenialer kann ein Intrigennetz nicht zum Klingen gebracht werden: Vom quirligen D-Dur sind wir vor eineinhalb Stunden in der Ouvertüre ausgegangen – jetzt, im Augenblick des äußersten Durcheinanders, finden wir uns in As-Dur. Weiter können wir uns im Quintenzirkel von D gar nicht entfernen. Das ist simpel – und ebendrum der raffinierteste Kunstgriff.

Brünnhild und der Bajazzo. „Wo wäre mein Wissen gegen dies Wirrsal?“, fragt Brünnhilde – genau genommen ist es wie das Öffnen der Tür im „Figaro“, in dem die Gräfin ihr „Susanna?“ haucht: Siegfried trägt den Ring am Finger, den doch Gunther Brünnhilde geraubt hat. Zaubertränke, Flüche und Tarnhelme sind bei Wagner im Spiel. Wer deren Bann bricht, dem winkt das Weltenende – wie Figaros Hochzeitsgästen das Bankett.

„Corriam tutti a festeggiar“, auf gut Wienerisch: „Gemma was essen“ – allegro assai, rasant also löst sich die Spannung in die menschlich-allzumenschliche Normalität. Man bedenke: Eben noch hat der Graf – wir schreiben das Jahr 1786! – vor versammelter Dienerschaft sein Knie gebeugt und um Verzeihung gebeten. Dem „Contessa perdono“ folgt einer jener kostbaren Momente, in denen sich die Zeit zu vergessen scheint, ein verhaltener Hymnus, ein ferner Traum von „Liberté, égalité, fraternité“, den Beethoven uns im „Fidelio“-Finale so martialisch und fortissimo verkündet, als könnte er je ganz Realität werden.

Mozart fasst ihn in 15 mehrheitlich im Piano gehaltene Takte – vielleicht ist das der letzte Abglanz des lang vergessenen antiken Chors, der in die eben erfundene moderne psychologische Komödie herüberklingt.

Dann aber: rasch zur Suppe. Was kümmern uns Visionen, die Wahrheit?Pamina gelingt in der „Zauberflöte“ noch eine magische Beschwörung, die dem großen Moment im „Figaro“-Finale verwandt ist. Und sie spricht es aus: „Die Wahrheit“ werde sie bekennen, „sei sie auch Verbrechen“.

„Was die Wahrheit ist, das bringt kein Mensch heraus“, tönt in „Elektra“ die Antwort. Kein Mensch, und auch die Oper nur in utopischen Augenblicken, möchte man ergänzen – sogar die veristische Oper. Ridi, Pagliaccio!

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2013)

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