Dass Placebos wirken, obwohl sie keinerlei Wirkstoff enthalten – nichts Wahres, kein "Verum" – kommt vom "therapeutischen Kontext" und den (Heils-)Erwartungen, die darin aufgebaut werden. Die sind Selffulfilling Prophecys.
Placebo Domino in regione vivorum“, so leierten im 13. Jahrhundert bezahlte Trauernde: „Ich will dem Herrn gefallen im Land der Lebenden.“ Das ist die neunte Zeile des Psalms 116 (in einer falschen Übersetzung in der Vulgata, in Wahrheit ging es darum, dass man „vor dem Herrn wandern“ werde), nicht alle hörten die Litanei gern, die Trauer war schließlich nur Schein(heiligkeit), deshalb nannte man die Pompfüneberer – wie die Leichenbegleiter nicht nur in Wien heute noch heißen – bald selbst „Placebos“. So kam das Wort in den modernen Sprachschatz, dort unternahm es weite Wanderungen, bei denen es immer um eines ging, die Wahrheit bzw. ihre Prüfung.
Erst griff die Kirche zu: Im 16.Jahrhundert hatte sie mit einem Überborden des Exorzismus zu kämpfen und musste unterscheiden, ob ein Tobender vom Teufel besessen war oder ganz irdisch irrsinnig. Zu diesem Zweck zeigte man ihm eine Reliquie, so eine treibt den Teufel zur Weißglut. Aber die vorgezeigte war gefälscht (und den Teufel hatte man unter Wahrheitspflicht genommen, das konnte man): Reagierte der Kranke/Besessene nun hoch emotional, war er geisteskrank, er bildete sich den Teufel in seinem Kopf nur ein. Der echte hätte sich von dem Trug nicht narren lassen, gefälschte Reliquien muss er nicht fürchten.
Damit war das Fundament gelegt, später bauten die Naturwissenschaften weiter, es ging um Franz Anton Mesmer und sein „Fluidum“, eine zuvor unbekannte Natur- bzw. Lebenskraft, die ins Stocken geraten – und dadurch krank machen – und mit Magneten wieder in Fluss gebracht werden kann. Damit heilte Mesmer alles Erdenkliche, und er erregte in Paris so großes Aufsehen, dass Ludwig XVI. 1784 eine Kommission unter Benjamin Franklin – der Gelehrte war US-Botschafter – und Antoine Lavoisier einsetzte. Sie sollte nicht über die Heilungen befinden, sondern über die Existenz des Fluidums. Also ersann man eine für die weiteren Naturwissenschaften grundlegende Methode, die Blindstudie, man testete an Patienten Mesmers und führte sie in die Irre: Manchen gab man (nur vorgeblich) magnetisierte Objekte in die Hand, anderen gab man nichts, sondern versteckte Magneten in ihrer Nähe. „Das Fluidum hat keine Existenz“, schloss die Kommission, als und weil die Patienten auf den einen Trug hereinfielen und den anderen nicht bemerkten. Aber geheilt wurden manche doch.
Diese Kraft von Glaube und Hoffnung fiel wieder viel später endlich auch in der Medizin auf: Der US-Anästhesist Henry Beecher bemerkte im Zweiten Weltkrieg, dass verwundete Soldaten im Spital viel seltener nach Schmerzmitteln riefen als Zivilisten mit vergleichbaren Verletzungen. Offenbar sorgte die Einstellung dafür: Die Soldaten wussten sich in Obhut – und hatten überlebt –, die Zivilisten sahen mit Sorgen in die Zukunft. Beecher verfolgte das Phänomen, 1955 publizierte er eine einflussreiche Studie, derzufolge 35 Prozent aller Patienten positiv auf Placebos – Pillen oder Kuren ohne Wirkstoffe – reagierten.
Es blieb umstritten, noch 2001 kam ein ebenso einflussreicher Gegenbefund: Nur der echte Wirkstoff – das „Verum“ – könne heilen. Aber da war schon lange klar, dass auch aus dem Nichts von Placebos etwas werden kann. Man hatte es vor allem an Schmerzpatienten erkundet, dort ist ein Teil der Wirkung neurobiologisch: Auf Schmerzen bzw. den Wunsch nach Linderung reagiert der Körper mit der Produktion ganz echter Pharmaka, endogener Opoide, die dämpfen, selbst wenn die Pille nur aus Zucker besteht. Auch die verstärkte Produktion mancher Neurotransmitter spielt mit
Aber (Heils-)Erwartungen brauchen oft überhaupt keine physiologische Begleitung: Fügt man Testpersonen Schmerzen an der Haut des Arms zu – etwa mit Hitze –, und drückt man ihnen dann eine Brandsalbe in die Hand, dann wirkt die, wenn sie als wirksam angepriesen wird; was offen als Placebo daherkommt, hilft nicht. Als wirksam Angepriesenes hingegen wirkt nicht nur auf Testpatienten, sondern auch auf echte Ärzte, die man ohne ihr Wissen zu Testpersonen macht: In einem Experiment ließ man sie Patienten ein vorgebliches „Verum“ verabreichen, das in Wahrheit keines wahr. Es wirkte besser als ein den Ärzten – nur ihnen, nicht den Patienten – als Placebo“ angekündigtes Mittel. Offenbar müssen zuerst einmal die Ärzte Vertrauen in ein Medikament haben, dann springt das auf die Patienten über.
Und darum geht es, um den „therapeutischen Kontext“, das zeigt sich am deutlichsten im „Open-Hidden-Paradigma“: In dem erhalten Patienten eine Infusion – immer eine echte, in diesem Experiment gibt es keine Placebos –, einmal wird sie vom Arzt oder der Krankenschwester verabreicht, einmal von einem Computer. Bei dem wissen Patienten nicht, wann die Infusion kommt, sie können keine Erwartungshaltung aufbauen – die Infusion wirkt schlechter.
Aber was heißt überhaupt „Wirkung“? In manchen Experimenten zeigen sich physiologische Änderungen, in anderen nicht, etwa bei Asthmatikern, denen man mit Inkubatoren zu freierer Atemluft verhalf. Im einen Fall war ein Verum drin, im anderen ein Placebo. Letzteres hinterließ überhaupt nichts Messbares im Körper, aber in der subjektiven Empfindung fühlten sich diese Patienten beim Atmen genauso erleichtert wie die anderen. Und darum geht es ja: Man sieht etwas – eine Pille, eine Akupunkturnadel etc. –, man baut eine Erwartung auf, sie wirkt als Selffulfilling Prophecy, das tut die Akupunkturnadel auch, wenn sie gar nicht eingestochen, sondern nur auf die Haut aufgesetzt und dann in ihre Hülle zurückgefahren wird, wie ein Theaterdolch.
Und das alles funktioniert sogar dann, wenn man überhaupt nichts sieht, zumindest nicht bewusst. Ted Kaptchuk (Harvard Medical School), der seit Jahren auf diesem Feld führende Forscher, von dem alle bisher berichteten Experimente stammen, hat auch folgendes unternommen: Wieder wurde Testpersonen Schmerz am Arm bereitet, zugleich sahen sie auf einem PC-Schirm das Gesicht eines Mannes, das von Schmerzen verzerrt war, entweder von leichten oder von schweren.
Das steuerte die Schmerzwahrnehmung: Wer leichten/schweren fremden Schmerz sah, empfand den eigenen auch so. Und wer es nicht sah – nicht bewusst –, tat es genau so, das zeigte sich, als die Gesichter auf dem Schirm so kurz erschienen, dass sie nur subliminal wahrgenommen werden konnten: „Wir spekulieren, dass auch Hirnregionen, die nichts mit dem Bewusstsein zu tun haben, Placeboeffekte erzielen können“, schloss Kaptchuk aus diesem Befund, und ganz generell fasste er alle, die er in seinen Experimenten gesammelt hatte, so zusammen: „Placeboeffekte sind Teil der medizinischen Praxis und potenziell immer am Werk, wenn ein Patient in einen therapeutischen Kontext eintritt.“
Das heißt natürlich auch, dass Placeboeffekte in jeder Therapie am Werk sind, nicht nur bei Placebos. Sondern auch beim Verum, die Trennungen werden am Ende völlig unscharf: Spätestens beim Klingeln an der Praxistür des Arztes bauen Hilfesuchende nicht nur Angst, sondern vor allem auch Erwartung auf, sie werden schon erstens Zuspruch und zweitens ein wirksames Medikament erhalten. Und wenn ihnen der Arzt nach der Konsultation ein Mittel verschreibt, dann beharren viele auf dem Original und lehnen das inhaltlich identische Generikum ab: Wenn schon ein Verum, dann bitte das wahre und echte!
Und das heißt ganz am Ende, dass sich ausgerechnet beim einstigen Probestein der Wahrheit – dem Placebo – das Wahre und das Falsche und das Echte und das Unechte nicht mehr unterscheiden lassen, weil wir uns dort unsere Wahrheit zumindest partiell selbst machen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2013)