Hans Wiesinger hat versucht, bei einem Brand nicht zuerst sich, sondern andere Menschen zu retten. Seither ist er querschnittsgelähmt.
Es gibt wenig, was so befriedigend ist wie Heldensagen. Obwohl eine Mission ausweglos erscheint, obwohl das Ende nicht vorhersehbar ist, erreicht der Held sein Ziel. Doch was ist, wenn so eine Geschichte schiefgeht? Wenn jemand, der versucht, anderen Menschen zu helfen, scheitert? Oder nicht so unbeschadet davonkommt, wie er es verdient hätte?
Hans Wiesinger ist so ein Fall. Der Oberösterreicher hat vor 30 Jahren bei einem Hotelbrand in Istanbul nicht zuerst an sich selbst, sondern an andere gedacht. Wiesingers Geschichte beginnt an einem Samstagmorgen um halb acht mit einer Explosion. Es ist ein Unfall, ausgelöst durch eine Unachtsamkeit. Ein Kellner hat im Speisesaal eine 15-Liter-Gasflasche gewechselt. Sie leckt. Dann geht sie hoch.
Das ist der Moment, in dem Hans Wiesinger in seinem Zimmer nahe dem Speisesaal aufwacht. Er ist mit seinen Kollegen vom Magistrat Wels angereist. Ein Betriebsausflug. Die Mitarbeiter konnten privat verlängern. „Das ist mir zum Verhängnis geworden“, sagt er und lächelt leicht. Wiesinger ist ein sympathischer Mann im roten Strickpullover, der seine Geschichte mit der heiter-ironischen Gelassenheit eines Menschen erzählt, der sich mit seinem Schicksal abgefunden hat. „Ich habe immer schon in Lösungen gedacht“, wird er später sagen.
Rauch, überall Rauch. Als Wiesinger aufwacht, ist sein Zimmer schon komplett verraucht. Sein Fenster führt in einen Lichtschacht. Unter ihm ist das Feuer. Doch als er die Türe öffnet, steht er vor einer schwarzen Wand. Nur Rauch. Giftige Gase. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, in dem Wiesinger rennen sollte. Nach draußen, in die höheren Stockwerke. Raus, raus, raus.
Aber Wiesinger rennt nicht. Oder doch, aber nicht, um sich in Sicherheit zu bringen. Er beginnt seine Gangkollegen aufzuwecken. Es ist halb acht in der Früh, viele liegen noch im Bett. „Lasst die Türen geschlossen und gebt nasse Handtücher in die Fugen“, schreit er ihnen zu. Es ist die einzige Möglichkeit zu überleben. Weg von den giftigen Gasen, irgendwo an der Außenmauer runter oder hoffen, dass die Feuerwehr kommt. Als Ingenieur, der viele Baustellen betreut hat, weiß das Wiesinger. Das gesamte Stiegenhaus brennt, der Notausgang ist zugesperrt.
Ein Zimmer, das er öffnet, ist dunkel vor Rauch. Trotzdem läuft er hinein, um den Menschen darin zu retten. Doch er schafft es nicht. Oder besser, er weiß es nicht mehr. Wiesinger wird bewusstlos. Das Nächste, an das er sich erinnert, ist, dass er im Krankenhaus aufwacht. Sanitäter haben ihn vor dem Hotel gefunden. Er dürfte benommen aus dem Fenster gestürzt sein, das zum Glück auf die Straße ging. Nahezu jeder Knochen in seinem Schädel ist gebrochen, ein Ellbogen zerstört, ein Sehnerv gerissen, doch was schlimmer ist, er kann seine Beine nicht mehr bewegen. Er wird es nie wieder können.
Die Jahre werden vergehen. Bei dem Brand sind 42 Menschen ums Leben gekommen. Zwölf waren von seiner Gruppe. Wie viele Menschen er retten konnte, weiß er nicht. Sein Kurzzeitgedächtnis ist gelöscht. Aber er weiß: Viele, die sich im Gang aufgehalten haben, sind erstickt.
Wiesinger wird sich erholen. Weil er seine Familie hinter sich hat. Nur gehen wird er nie wieder können. Trotzdem macht er sich keine Vorwürfe. Denkt nicht darüber nach, ob er sich einfach seinen Weg ins Freie hätte erkämpfen sollen. Er, der Ehemann, damals Vater zweier Kleinkinder. „Natürlich hat man irgendwann Selbstmordgedanken. Jeder Rollstuhlfahrer hat die“, sagt Wiesinger. Trotzdem blieb die große „Was wäre wenn“-Frage aus. „Ich stelle mir die Frage nicht. Man hat ja keine Zeit zu überlegen. Das ist alles ganz intuitiv passiert“, sagt er. Und: „Es war eine Selbstverständlichkeit zu helfen.“ Dieses Helfen, das ist ihm noch heute wichtig. Wiesinger ist einer von neun gerichtlich zertifizierten Sachverständigen für barrierefreies Bauen in Österreich. Es ist ein großer Teil seines neuen Lebens geworden.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2013)