Die Freiheit geht an der Gleichheit kaputt

Freiheit geht Gleichheit kaputt
Freiheit geht Gleichheit kaputt(c) REUTERS (HERWIG PRAMMER)
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Die demokratischen Systeme vieler EU-Länder haben Gleichheit mit sehr hohen Schulden erzeugt, meint Andreas Treichl. Jetzt büßen diejenigen dafür, die in der Vergangenheit davon profitiert haben.

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ haben die Entwicklung der Demokratie in Europa entscheidend geprägt. Zahlreiche unserer sozialen und gesellschaftlichen Errungenschaften finden ihren Ursprung in den revolutionären Ideen des späten 18. Jahrhunderts. Vieles, was Europa wohltuend von anderen Kontinenten unterscheidet, vor allem die Tiefe seiner gesellschaftlichen Solidarität, hat seine Wurzeln in dieser Zeit.

Leider scheint der Stellenwert von Freiheit in der politischen Diskussion Europas 224 Jahre später nur mehr einen sehr reduzierten Wert zu haben.

Politische Revolutionen finden nicht statt, und das neue Leitmotiv heißt „Gleichheit, Brüderlichkeit, Schwesterlichkeit“, zumindest so lange, als Bürgerinnen eines europäischen Staates nicht für Bürger eines anderen zahlen müssen.

Freiheit hat sich irgendwohin verabschiedet und taucht bestenfalls noch in der europäischen Friedenspolitik auf. Das Friedensprojekt Europäische Union war und ist tatsächlich wunderbar, hat es uns doch über nun schon mehr als 70 Jahre Frieden und Wohlstand gebracht. So wird es vor allem in den letzten Jahren, in denen es zwar noch immer Frieden gibt, aber mit der Wohlstandsvermehrung ein wenig hapert, permanent von Politikern zur Rechtfertigung dafür verwendet, dass sonst nichts weitergeht. Das nervt, und es ist leider vergangenheitsbezogen. Die derzeitige Handhabung der europäischen Friedenspolitik setzt voraus, dass in den nächsten Jahrzehnten und Jahrhunderten niemand beabsichtigt, die zunehmende Verteidigungsunfähigkeit Europas auszunützen. Wir erwarten uns vom Rest der Welt ein absolutes Bekenntnis zu unserer Freiheit und Sicherheit.

Europa verliert an Macht. Ich glaube da nicht ganz dran und mach mir manchmal ein wenig Sorgen, wenn ich an die Zukunft meiner Kinder denke. Dann beginne ich darüber nachzudenken, ob der Verlust der militärischen Macht Europas etwas mit dem Verlust der wirtschaftlichen Bedeutung unseres Kontinents zu tun hat. Wird die rasch wachsende wirtschaftliche Bedeutung Chinas auch Auswirkungen auf seine militärische Macht haben? Das beschäftigt die Amerikaner sehr, aber wer beschäftigt sich damit in Europa: Barroso oder Van Rompuy oder gar beide? Was ist wichtiger, eine gemeinsame europäische Währung oder eine gemeinsame europäische Armee? Sollten wir nicht beides haben, um unserer Freiheit willen?

Unsere Gleichheit ist auf wesentlich höherem Niveau als die Ungleichheit mancher anderer, aber wir verlassen uns darauf, dass das niemanden interessiert. Das erspart uns natürlich hohe Rüstungsausgaben und noch höhere Budgetdefizite.

In Österreich wollen wir natürlich auf jeden Fall Freiheit haben und auch jemanden, der sie für uns absichert, wer auch immer das sein mag.

Freiheit ist für uns Österreicher eine Selbstverständlichkeit, für die wir allerdings herzlich wenig tun, außer festzuhalten, dass wir sie anderen auch gönnen. Ob aber jeder Österreicher unbedingt auch wirtschaftliche Freiheit für sich selbst haben will, das ist schon nicht mehr so klar. Freiheit kann nämlich furchtbar anstrengend sein, man ist sein eigener Herr/Dame, man muss für sich selbst sorgen. Das ist nicht nur risikoreich, sondern kann auch schiefgehen.


Grauenhafte Verschuldung. Achtung! Freiheit ist echt gefährlich und kann auch Ungleichheit erzeugen. Das geht nicht, weil da wäre man dann ja auf individuelle Geschwisterlichkeit angewiesen, um die große Chancenungleichheit sorgsam auszutarieren (jetzt fällt mir auf, dass Windows Word genderunfähig ist, es lehnt nicht nur Schwesterlichkeit, sondern sogar Geschwisterlichkeit ab). Daher benötigen wir: staatliche Intervention zur Wiederherstellung von Gleichheit. Wenn diese perfekt funktioniert, dann können andere „-lichkeiten“ wie Brüder- und Schwesterlichkeit beiseitegelassen werden, und wir finden zu einem neuen Wertesystem für Europa: „Gleichheit, Staatlichkeit“.

Über viele Jahrzehnte war eine der vielen Schönheiten Europas das im Großen und Ganzen so gut funktionierende System von Freiheit und staatlichem Ausgleich, das sowohl den Nehmern aus dem staatlichen Topf wie auch denen, die ihn füttern, Wohlbefinden und Vermögen oder zumindest ein wenig finanziellen Rückhalt gebracht hat. Sich in der Vermögensvermehrung/-erhaltung auf Geschwisterlichkeit zu verlassen wäre wohl sehr naiv, aber Europa hat das in den vergangenen Jahrzehnten sehr gut gemacht, allerdings mit dem Nebeneffekt der grauenhaften Verschuldung.


Jetzt zahlen die Profiteure von gestern. Die Krise der vergangenen Jahre zeigt jetzt eine schreckliche Konsequenz, in dem sie die schwächsten der Gesellschaft trifft. Die Schulden der Staaten und des Finanzsystems werden zur Belastung von Menschen, die in diesen Staaten leben.

Die demokratischen Systeme vieler europäischer Staaten haben Gleichheit mit viel zu hohen Schulden erzeugt, für die jetzt diejenigen büßen, die in der Vergangenheit davon profitiert haben. Das ist nicht gerecht, es ist das Gegenteil und ein Resultat des Systemproblems einer demokratischen Gesellschaft. Denn Demokratie erfordert einen sehr guten Ausgleich zwischen Freiheit und Regulierung, zwischen Selbstständigkeit und Verteilung. Manche Staaten Europas haben das recht gut gemacht und manche sehr schlecht. Freiheit muss gut neben Gleichheit leben können, aber da dies einige Staaten in der Europäischen Union nicht geschafft, sondern eher vermasselt haben, haben wir jetzt ein großes Problem, das wir lösen müssen, ob gemeinsam oder getrennt. Hoffentlich gemeinsam.

Wir müssen einen Weg finden, mehr Gleichheit zwischen den europäischen Staaten zu erzeugen, ohne die Freiheit kaputt zu machen. Europa ist unendlich wichtig für diese Welt, wir waren der Kontinent, in dem sich die unterschiedlichen Formen der Freiheit am längsten und am besten nebeneinander entwickeln konnten: politische Freiheit, Freiheit der Medien und wirtschaftliche Freiheit usw. In vielen Ländern dieser Welt gab und gibt es das nicht. Die Formen der Freiheit bewegen sich sogar teils dramatisch auseinander, und gerade diese Länder scheinen derzeit auf der Gewinnerseite zu sein.


Mehr Wirtschaftlichkeit.
Das ist nicht gut für diese Welt, und deswegen darf Europa seinen Einfluss nicht verlieren, und gerade deswegen muss Europa seinen Weg gemeinsam gehen.

Wann fangen wir endlich an, in Europa und auch in Österreich darüber zu reden, aber vor allem daran zu arbeiten?

„Mehr Freiheit, mehr Gleichheit, gesichert durch mehr Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbsfähigkeit als anderswo auf der Welt“, das wäre doch nicht so schlecht als europäisches Leitmotiv für die nächsten 224 Jahre.

Zur Person

Andreas Treichl wurde 1952 in Wien geboren, er besuchte das Schottengymnasium und studierte Volkswirtschaft in Wien.

Erste Bank. Nach Stationen in der Chase Manhattan Bank und Crédit Lyonnais wechselte Treichl 1994 in den Erste-Vorstand, seit 1997 ist er Generaldirektor der Erste Bank, seit 2008 CEO der Erste Group.

Politik. Treichl war von 1991 bis 1997 Finanzreferent im Bundesvorstand der ÖVP.

Familie. Treichl ist der Sohn des früheren Creditanstalt-Chefs Heinrich Treichl. Andreas Treichl ist mit Desirée Treichl-Stürgkh verheiratet und hat drei Söhne.
Clemens Fabry

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2013)

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