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Vielleicht kratzen wir erst an der Oberfläche

Vielleicht kratzen erst Oberflaeche
Vielleicht kratzen erst Oberflaeche(c) APA/HERBERT PFARRHOFER (HERBERT PFARRHOFER)
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"Was ist Wahrheit?", fragte Pilatus – und ging hinaus. Naturwissenschaftler bleiben lieber dabei, und sie hoffen auf Unterstützung durch die Philosophie. Quantenphysiker Anton Zeilinger erklärt, warum.

Der dänische Physiker Niels Bohr meinte einmal, wohl halb scherzhaft, dass es zwei verschiedene Wahrheiten gäbe. Einfache Wahrheiten sind solche, die Feststellungen machen, deren Gegenteil offensichtlich falsch ist. Dagegen enthält das Gegenteil einer tiefen Wahrheit auch eine tiefe Wahrheit.

Natürlich erhebt sich sofort die Frage: Was ist Wahrheit? Die Frage, die Pilatus an Jesus stellte. Und deren Beantwortung er nicht abwartete, sondern einfach hinausging.

Für den Physiker bedeuten Naturgesetze die Möglichkeit, Vorhersagen zu treffen. Vorhersagen für Beobachtungen, die überprüft werden können. Sind die Vorhersagen wahr, enthält für uns offenbar das Naturgesetz etwas Wahres. Sind sie falsch, ist entweder das Naturgesetz falsch oder der Weg, auf dem aus dem Naturgesetz die Vorhersage gewonnen wurde. Es könnte aber auch das Experiment falsch durchgeführt worden sein.

In der Physik ist eine der interessantesten Entwicklungen der Weg vom Konkreten zum immer Abstrakteren. Heute gilt die Annahme, dass hinter wichtigen Grundgesetzen Symmetrien stecken. Eine einfache Symmetrie ist die, dass grundlegende Phänomene in einem Spiegel gleich aussehen. Ein Stein, der neben mir hinunterfällt, fällt auch im Spiegelbild hinunter. Aber warum ist Symmetrie so wichtig? Oder, anders ausgedrückt, werden wir dies immer so sehen?

Es ist durchaus möglich, dass sich das Weltbild der Naturwissenschaften noch radikal ändern wird. Wir betreiben ja Naturwissenschaften erst seit den Zeiten von Galilei, Kepler, Newton. Dies ist ein verschwindend kleines Zeitintervall im Vergleich zur Geschichte unserer Zivilisation, geschweige denn der Geschichte der Menschheit. Ein romantischer Gedanke wäre daher, dass wir nach wie vor erst an der Oberfläche kratzen und uns die wirklich interessanten Fragen noch bevorstehen.


Einsteins Schritt. Aber wie können wir herausfinden, wo die wirklich revolutionären Fragen liegen? Wenn es tatsächlich um tiefe, fundamentale Fragen geht, benötigen die Naturwissenschaften die Unterstützung der Philosophie. Ein berühmtes Beispiel ist die Entwicklung der Relativitätstheorie. Ehe Einstein die Theorie niederschrieb, waren einige der wichtigsten Gleichungen bereits bekannt. Einstein ging einen entscheidenden Schritt weiter und erkannte, dass wir unsere Konzepte von Raum und Zeit ändern müssen. Beide sind nicht absolut, sondern Zeit ist das, was Uhren messen. Raum ist das, was man mit Maßstäben misst. Diese operationelle Analyse, die Raum und Zeit von ihrem absoluten Podest stößt, geht auf Ernst Mach zurück.

Bekanntlich erhielt Einstein nie den Nobelpreis für die Relativitätstheorie. Eigentlich sind es ja zwei, die spezielle und die allgemeine Relativitätstheorie. Wie man gerade an den Relativitätstheorien auch sieht, führt eine anfangs aus fundamentalen Überlegungen eingeführte abstrakte Theorie zu wichtigen technischen Anwendungen. Heute hat die Relativitätstheorie im GPS-System technische Anwendung gefunden. Technisch wirklich Neues kommt also über die fundamentalsten Fragestellungen.

Auf den folgenden Seiten werden einige Fragen aus verschiedensten Gesichtspunkten analysiert: Was ist Wahrheit? Wie kann man Wahrheit repräsentieren? Wie weiß man, ob man es mit Wahrheit zu tun hat? Wann ist ein Bild wie die Mona Lisa wahr? Wann eine Oper? Was ist an Siegmunds Wälserufen wahr? Oder, was unterscheidet die Wahrheit der Wirkung von Aspirin von der eines Placebos? Was ist wahr an der Farbe Rot? Oder gar: Ist die Existenz Gottes wahr? Und schließlich: Welche dieser Antworten ist eine tiefe Wahrheit im Sinne Bohrs?

Es ist also doch spannend, wenn man nach der Frage „Was ist Wahrheit?“ nicht, wie Pilatus, einfach hinausgeht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2013)