Die Ungarn und die "bösen anderen"

Ungarn boesen anderen
Ungarn boesen anderen(c) REUTERS (KAROLY ARVAI)
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Verschwörungstheorien haben bei den Magyaren gerade Hochsaison. Hinter allem gesellschaftlichen Unglück werden Juden oder Roma als Drahtzieher vermutet.

Budapest. Welcher Ungar kennt die Situation nicht: In einer Runde wird die gerade aktuelle Krise erörtert, schließlich herrscht in Ungarn fast immer Krisenstimmung. Nach besserwisserischen Suaden, hitzigen Wortgefechten und schrillen Übertreibungen enden die Diskussionen in vielen Fällen mit der unheilschwangeren Konklusion: „Dahinter stecken sicher die Juden!“

Der Grund: Die Juden werden von vielen Magyaren als verschworene Gemeinschaft wahrgenommen, die dunkle Absichten verfolge und in der Welt das Sagen habe – sei es in der Wirtschaft, in der Politik oder im Kulturleben.

Verschwörungstheorien seien in Ungarn seit jeher populär, erklärt der Politologe Péter Krekó. Doch warum sind solche Theorien gerade für die Ungarn so anziehend? Ihr größter Vorteil liege darin, so Krekó, dass sie bequeme Antworten auf schwer erklärbare, unerwartete und schockierende Ereignisse böten. Bequem seien sie, weil sie die „Feinde“ benennen würden. „Mithilfe von Verschwörungstheorien können wir die Sichtweise aufrechterhalten, dass die Welt im Grunde gerecht sei. Nur die bösen anderen sind dann dafür verantwortlich, dass den guten Menschen Schlimmes widerfährt“, erläutert der Politologe.

Bedrohter Nationalstaat

Die „bösen anderen“ sind in den Augen der Ungarn meistens die Juden. Laut Krekó gibt es in Ungarn „praktisch kein negatives gesellschaftliches oder politisches Ereignis, das nicht auf Verschwörungen zurückgeführt wird, hinter denen entweder Israel oder die Juden stehen“. Ein Hauptvorwurf gegen die Juden sei deren „Fremdartigkeit“. Damit aber stellten sie eine Bedrohung für den homogenen ungarischen Nationalstaat dar.

Eine im Vorjahr veröffentlichte Studie der amerikanischen Anti-Diffamierungs-Liga (ADL) bestätigt Krekós Erkenntnisse. Laut ADL sind mehr als 70 Prozent der Ungarn der Meinung, dass die Juden zu viel Einfluss auf das Geschäftsleben (73 Prozent) und die internationalen Finanzmärkte (75 Prozent) hätten. Zum Vergleich: In Österreich beträgt der Anteil jener, die so denken, 30 bzw. 38 Prozent. Aus der ADL-Studie geht außerdem hervor, dass fast zwei Drittel der Magyaren (63 Prozent) Antisemiten sind, in Österreich liegt dieser Wert bei 28 Prozent.

In der ungarischen Politik wird der Antisemitismus naturgemäß von der rechtsradikalen Partei Jobbik am lautesten vertreten. Jobbik geht sogar so weit, Antisemitismus und Roma-Feindlichkeit zu einem kruden ideologischen Cocktail zu vermengen. Die rechtsextreme Partei scheint die Ursache für das „Roma-Problem“ in Ungarn im Judentum gefunden zu haben.

Erfolg mit Anti-Roma-Parolen

Der frühere Jobbik-Vizechef József Bíber stellte vor Jahren die Frage: „Was ist denn die Zigeunerkriminalität?“ Und gab gleich selbst die Antwort: „Machen wir uns nichts vor, sie ist eine biologische Waffe in den Händen des Zionismus.“ Jobbik vermochte aus der in Ungarn weit verbreiteten Roma-Feindlichkeit sogar politisches Kapital zu schlagen. Nicht zuletzt wegen ihrer Anti-Roma-Parolen erlangte die Partei bei den Parlamentswahlen 2010 knapp 17 Prozent der Wählerstimmen.

Laut einer jüngsten Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Tárki und des Politikforschungsinstituts Political Capital ist knapp die Hälfte der Jobbik-Wähler den Roma gegenüber feindlich eingestellt. Was besonders überrascht: Rund ein Drittel der Sympathisanten der nationalkonservativen Regierungspartei Fidesz und der oppositionellen Sozialisten (MSZP) hängt ebenfalls dem Antiziganismus an. Was die Gesamtgesellschaft angeht, hegt mehr als die Hälfte Vorurteile gegenüber „Zigeunern“.

Jugendliche Rassisten

Eine im Vorjahr durchgeführte Umfrage der Stiftung Belvedere Meridionale wiederum weist darauf hin, dass in Ungarn vor allem junge Menschen für rassistische Ideen empfänglich sind. Die Umfrage ergab, dass unter Studenten Jobbik am populärsten ist, der Zuspruch für die rechtsradikale Partei liegt bei 33 Prozent.

In Ungarn leben heute rund 100.000 Juden und schätzungsweise mehr als 600.000 Roma. 1944 wurden aus Ungarn unter der aktiven Mithilfe ungarischer Behörden mehr als 400.000 Juden und zehntausende Roma nach Auschwitz und in andere KZ deportiert. Ungarn war im Zweiten Weltkrieg ein Verbündeter Hitlerdeutschlands.

Politisches Buch

Regina Fritz legt diese preisgekrönte Studie zum Umgang der ungarischen Gesellschaft mit dem Judenmord von 1944/1945 vor. Analysiert werden darin die verschiedenen Blickwinkel auf den Holocaust von 1945 bis 2009 (364 Seiten, Wallstein Verlag).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2013)

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