Aufschrei Aktionismus

Der "Skandal". Während woanders die 68-er Studenten revoltierten, waren das in Wien die Künstler.

E
inen "ruhigen" Vortragsabend hatte der Sozialistische Österreichische Studentenbund beim Rektor der Universität Wien angekündigt. Freitag, 7. Juni 1968, 20 Uhr, Hörsaal 1, Neues Institutsgebäude. Thema: "Kunst und Revolution". Was daraus wurde, ging nicht nur in jede Österreich-Chronik, sondern vor allem auch in die Kunstgeschichte ein.

Bereits im Text der Einladung, die Oswald Wiener, Günter Brus, Otto Mühl, Peter Weibel und Franz Kaltenbäck ankündigte, bestimmte Wiener die Richtung: ",kunst' ist nicht kunst. ,kunst' ist politik, die sich neue stile der kommunikation geschaffen hat." Wie sich diese Kommunikation dann gestaltete, ist in unzähligen Ausstellungskatalogen, Gerichtsakten und Augenzeugenberichten - einer davon ist im "Wiener Aktionismus"-Bereich des Museums moderner Kunst zu sehen - nachzulesen.

Kurz zusammengefasst: Otto Mühl beschimpfte den gerade ermordeten Robert Kennedy (= Kapitalismus), Peter Weibel, technisch unterstützt von Valie Export, den damaligen Finanzminister Stephan Koren. Währenddessen zog sich Günter Brus nackt aus, stieg auf den Katheder, schnitt sich mit einer Rasierklinge in die Brust, trank seinen Urin, übergab sich, beschmierte sich mit Kot - alles zu "Gaudeamus igitur" und Bundeshymne. Mühl schickt seine "Direct Art Group" los, die gemeinsam mit Brus "Handlungen, die nicht wiedergegeben werden können" (Zeugenbericht), vollführten, und peitschte jemanden mit einem Gürtel aus. Wiener und Kaltenbäck dozierten derweilen über das Verhältnis von Sprache, Denken und Information, was allerdings im Gejohle des 400-köpfigen Publikums unterging.

Nach etwa einer halben Stunde war der Spuk vorbei, der Rektor erschien, ließ protokollieren und Michael Jeannee rauschte in die Redaktion des "Express" ab, wo zwei Tage später seine "Uniferkel"-Story erschien. Der Skandal war perfekt. Brus, Mühl und Wiener wurden verhaftet, die ersten beiden auch verurteilt. Brus und Wiener gingen ins Berliner Exil. Das war 1969.

So markiert "Kunst und Revolution" sowohl die erste öffentlich wahrgenommene Aktion der bis dahin im Untergrund agierenden Künstler wie auch einen Endpunkt, eine Art Auflösung des harten Kerns der damaligen Wiener Avantgarde, zu der u. a. auch Arnulf Rainer, Christian L. Attersee, Konrad Bayer, Alfons Schilling zählten. Maria Lassnig zog 1968 gerade von Paris nach New York um.

Was rückblickend von der Kulturwissenschaft in den "Wiener Aktionismus" (Nitsch, Brus, Mühl, Schwarzkogler) und die meist mehr mit Literatur assoziierte "Wiener Gruppe" eingekastelt wurde, stellte wohl die radikalste künstlerische Bewegung der aktionistischen 60er Jahre dar. Statt wie in Frankreich und Deutschland die Studenten revoltierten in Österreich die Künstler gegen Verlogenheit und Kleinbürgerlichkeit, so MAK-Direktor Peter Noever: "Sonst wäre Wien im Sumpf der tiefsten Harmonie und größten Scheinheiligkeit stecken geblieben." Eine bedrückende Atmosphäre, der der 2004 verstorbene ehemalige Mühl-Kommunarde Otmar Bauer in seinen autobiografischen Notizen "1968" (Edition Roesner) ein ebenso bedrückendes Denkmal gesetzt hat.


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