Es war einmal in Wien... ein Jugendgericht

(c) Clemens Fabry
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Vor einem Jahrzehnt wurde der Wiener Jugendgerichtshof aufgelassen. Experten kritisieren, dass sich die Haftsituation der Jungen verschlechtert hat. Und sie hoffen auf ein Comeback der Institution. Immer noch.

Rüdengasse 7–9 ist eine stille Adresse – außer, wenn Filmteams auftauchen, um in dem wuchtigen Gebäude Krimis (zum Beispiel „Soko Donau“) zu drehen. Ansonsten steht das Gebäude, das 2006 an den Immobilienentwickler CEBA verkauft, wurde leer.

Ziemlich genau zehn Jahre ist es her, als im März 2003 – Wolfgang Schüssel war damals Bundeskanzler, Dieter Böhmdorfer Justizminister – der Ministerrat den Beschluss fasste, den in Wien Erdberg (3.Bezirk, Rüdengasse 7–9) angesiedelten Jugendgerichtshof (JGH) aufzulassen. Ein Paukenschlag innerhalb der Strafjustiz. Der JGH, eröffnet in der Ersten Republik, am 1. Jänner 1929, unter dem christlich-sozialen Bundeskanzler Ignaz Seipel, galt nämlich als Prestigeprojekt, als Monument einer spezifischen Gerichtsbarkeit für Jugendliche.

Was damals der Grund war? Von offiziell-politischer Seite wurde die triste Situation im Gefängnistrakt des JGH als Hauptgrund für den Schritt angeführt. Die Übersiedlung eines Großteils der 17 Jugendrichter von Erdberg in das Graue Haus (Straflandesgericht Wien, 8.Bezirk) war schon im Jänner 2003 erfolgt. Die jungen Häftlinge waren in das Josefstädter Gefangenenhaus verlegt worden. Sang- und klanglos lief das jedoch nicht ab. Die Damen und Herren Räte räumten das Feld nur unter Protest. Der JGH war international immerhin angesehen. Immer wieder waren Delegationen aus dem Ausland gekommen, um ihn zu studieren.

Mit 30.Juni 2003 war der alte JGH dann endgültig Geschichte. Mit dem Datum wurde seine „Auflassung“ im Jugendgerichtsgesetz festgeschrieben. Eine eigene Organisationseinheit, die 74 Jahre lang ein Hort liberaler Strafrechtspflege gewesen war (sogar schon davor, bereits 1920, war ein Vorläufer-Jugendgericht errichtet worden), hatte aufgehört zu bestehen. „Die Agenden des JGH wurden auf 14 Wiener Gerichte, das Landesgericht für Strafsachen, das Landesgericht für Zivilrechtssachen und zwölf Wiener Bezirksgerichte aufgeteilt“, erinnert sich nun Udo Jesionek, der letzte JGH-Präsident. Er ging Ende 2002 in Pension.

Und nun – ein Jahrzehnt danach? Wie hat sich die Wiener Jugendgerichtsbarkeit entwickelt? Einer der – laut Eigendefinition – „alten“ Jugendrichter, Norbert Gerstberger, Obmann der Fachgruppe Jugendrichter innerhalb der Richtervereinigung, sieht zwar keinen Einbruch bei der „Qualität der Gerichtsbarkeit in Jugendstrafsachen“, fürchtet aber „längerfristige Auswirkungen“. Derzeit gibt es im Grauen Haus neun Jugendrichter für Verhandlungen (aufgeteilt auf drei Abteilungen). Zudem ist ein knappes Dutzend Rechtsschutz-Richter (sie entscheiden beispielsweise, ob U-Haft verhängt wird) unter anderem auch auf Jugendstrafsachen spezialisiert. Gerstberger beobachtet immer häufigere personelle Wechsel zwischen unterschiedlichen Gerichtsabteilungen.

Die „Alten“ fehlen. „Dadurch geht Spezialisierung verloren – wenn wir ,alten‘ Jugendrichter einmal nicht mehr aktiv sind.“ Daher meint er: „Ein spezialisierter Gerichtshof in Jugendstrafsachen war gerade in einer Großstadt wie Wien sinnvoll und wäre dies auch weiterhin, da eine Millionenstadt natürlich eine andere Jugendkriminalität birgt, als man sie auf dem Land oder in kleineren Städten findet.“

Zur Erklärung: Der Entschluss, im Ballungsraum Wien ein eigenes Gericht für Jugend(straf-)sachen einzurichten (auch jugendspezifische Vormundschafts- und Pflegschaftssachen wurden früher am JGH entschieden), basierte auf der Idee, dass kriminell gewordene Jugendliche leichter zu „erziehen“ sind als Erwachsene. An dieser Überlegung – Stichwort: Prävention – hat sich bis heute nichts geändert. Nach wie vor gelten für Jugendliche (Personen ab dem vollendeten 14. Lebensjahr bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres) grob gesagt nur die halben Strafsätze – verglichen mit jenen für Erwachsene. Privilegiert sind ferner die „jungen Erwachsenen“ (Personen ab dem vollendeten 18.Lebensjahr bis zum 21.Geburtstag). Auch für sie gelten eigens geregelte, mildere Strafsätze.

Ein paar Zahlen, um die Dimensionen zu erfassen: 2012 wurden in Wien 5714 jugendliche Tatverdächtige ermittelt. Zum Vergleich: Im „zweitstärksten“ Bundesland, in Niederösterreich, waren es 3865. Bei den jungen Erwachsenen wurden im Vorjahr in der Hauptstadt 6456 Personen ausgeforscht. Rang zwei belegte Oberösterreich mit 4815 Verdächtigen. Fast die Hälfte der Straftaten besteht aus Vermögensdelikten, also Einbrüchen, „Handy-Rauben“ etc.

Knapp ein Drittel der jungen Täter begeht Delikte gegen Leib und Leben, etwa Körperverletzungen. Wie sieht die Relation zwischen jugendlichen und erwachsenen Tätern aus? Schlüsselt man sämtliche Verurteilungen auf, so entfallen 7,5Prozent auf die Jugendlichen. Die 18- bis 21-Jährigen machen 14,1Prozent aus (Zahlen aus 2011, für das Vorjahr liegt keine Auswertung vor).

Wenn auch die Jugendkriminalität im vergangenen Jahrzehnt rückläufig ist, so werden aktuell genau jene Probleme beklagt, die dem JGH – trotz vorhergehender Teilrenovierung um satte 90 Millionen Schilling (ca. 6,4 Millionen Euro) – den Todesstoß versetzten: Die U-Haft-Situation für die jungen Leute sei im Josefstädter Gefangenenhaus prekär, sagen Insider. Jesionek, Chef der Opferschutzeinrichtung „Weißer Ring“, warnt, wie schon berichtet, vor den Auswirkungen der überfüllten Justizanstalt im 8.Bezirk. Denn nicht alle jungen Gefangenen befinden sich, wie vorgesehen, im Jugendgefängnis Gerasdorf (Niederösterreich). Vor allem jugendliche U-Häftlinge, derzeit um die 25, halten sich – wohlgemerkt: getrennt von der Erwachsenen – in der Josefstadt auf.

Vergewaltigungen in Haft. Jesionek: „Ich weiß von zahlreichen Missbrauchsfällen, Misshandlungen und Vergewaltigungen, die mir von Sozialarbeitern und vor allem auch von den Gefängnispfarrern berichtet werden.“ Richter Gerstberger sieht es als „echten Rückschritt, dass bis heute der Vollzug der U-Haft an Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Justizanstalt Josefstadt, somit in der größten Haftanstalt Österreichs, stattfindet und der Jugendvollzug daher nicht mehr die Qualität aufweist, die er in Erdberg hatte“.

Es gebe so „weniger Aktivitäten mit den Insassen“, dafür „mehr Übergriffe unter den Insassen“. Auswege zeigt die Wiener Jugendrichterin Beate Matschnig, Angehörige der Fachgruppe Jugendrichter, auf: Das Projekt „Unterbringung jugendlicher U-Häftlinge in einer Wohngemeinschaft“ („Die Presse“ berichtete) wird von Matschnig forciert. Demnach sollen die jungen Gefangenen bestimmte Wege in Freiheit machen dürfen – überwacht mittels Fußfesseln. Zudem will Matschnig die Konzentration aller bezirksgerichtlichen Jugendstrafsachen (Beispiel: Ladendiebstahl) in einem zentralen Bezirksgericht. Und in Westösterreich solle eine zweite Jugendstrafanstalt (nach dem Vorbild Gerasdorf) entstehen. Vor allem aber: „Unser Traum ist es, wieder einen eigenen Jugendgerichtshof zu haben.“ Greifbar war dieser „Traum“ unter der früheren SP-Justizministerin Maria Berger. Erfüllt wurde er nicht.

Harald Lacom, einst angesehenes JGH-Mitglied, mittlerweile als Richter in Pension, als Gerichtsdolmetscher weiter aktiv, zieht zehn Jahre danach eine bittere Bilanz: „Heute wissen viele nicht einmal mehr, dass es einmal einen JGH gegeben hat, und der Umstand, dass das schöne und repräsentative Gebäude in der Rüdengasse bis heute leer steht, stört niemanden. Wir stehen diesbezüglich in einer Reihe mit einigen armen Entwicklungsländern und brutalen Diktaturen.“

Historie

Der Jugendgerichtshof in Wien Erdberg wurde am 1.Jänner 1929 eröffnet. Das Prestigeprojekt galt als Monument einer spezifischen Gerichtsbarkeit für Jugendliche. Im März 2003 – Wolfgang Schüssel war Bundeskanzler, Dieter Böhmdorfer Justizminister – fasste der Ministerrat den Beschluss, den JGH aufzulassen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2013)

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