Tariq Ali: "Thatcher appellierte an tiefste Instinkte"

Nach dem Tod von Margaret Thatcher hat in Großbritannien eine gnadenlose Kontroverse über die historische Bedeutung der »Iron Lady« begonnen.

Was ist das Erbe Margaret Thatchers?

Tariq Ali:Ihre Hinterlassenschaft wird am heutigen Zustand Großbritanniens sichtbar. Es ist eine Geschichte von Niedergang und Ruin: ein postimperialer Vasallenstaat, der von Nostalgie und – mehr noch – den USA abhängig ist, um am Leben zu bleiben.

Und ihr wirtschaftliches Erbe?

Thatchers Modell, das erstaunlicherweise immer noch von blinden Politikern gepriesen wird, bestand im Wesentlichen aus der Deindustrialisierung des Landes und dem Stimmenkauf der Arbeiterklasse durch die Verschwendung der Einnahmen aus Nordseeöl. Sie legte die Basis für ein System, das mit dem Crash 2008 explodierte.

Wie würden Sie Thatchers Stil beschreiben?

Sie glaubte an den kleinsten gemeinsamen Nenner. Und sie appellierte an die tiefsten Instinkte. Es wäre möglich gewesen, genau dieselben Maßnahmen durchzusetzen, aber in weniger polarisierendem Ton.

Welche sozialen Folgen hatte ihre Politik?

Sie manövrierte die einst mächtigen Bergarbeitergewerkschaften aus. Thatcher zwang sie, einen Streik nach ihren eigenen Regeln auszurufen. Danach zerstörte sie die Gewerkschaften und brach der Labour Party das Rückgrat.

Und welche politischen Folgen hatte ihre Politik?

Thatchers Lieblingsschatzkanzler Nigel Lawson schrieb einmal bewundernd, dass Thatchers wahrer Erbe der damalige Oppositionsführer Tony Blair war. Seine Politik war tatsächlich eine Fortsetzung ihres Kurses, mit besserer PR und aggressiverer Kontrolle der Medien. Blair hatte weniger Glück mit seinen Kriegen. Irak war sein Ende. Er wurde als einfacher Lügner entlarvt.

Was war Thatchers größte Leistung?

Mir fällt keine ein. Aber das Establishment wird die Zerstörung der Gewerkschaften und der Labour Party wohl als Voraussetzung für all die späteren Privatisierungen sehen – als plötzlich privatem Kapital Zugriff auf geheiligte Bereiche des öffentlichen Sektors gestattet wurde. Und sehen Sie sich an, was aus Großbritannien geworden ist.

Was war Thatchers größter Fehler?

Alles, vom Neoliberalismus bis hin zu ihren Kriegen. Aus ihrer Betrachtungsweise war sie extrem erfolgreich, und ihr Erbe überlebte dank Tony Blair.

Sie war eine polarisierende Persönlichkeit.

Sie hat die Gesellschaft nicht wegen ihrer Persönlichkeit gespalten. Der Kurs des britischen Kapitalismus war schon vor ihrer Amtsübernahme vorbereitet worden. Aber sie setzte dies um. Ihre Anhänger gingen oft noch weiter als sie. Die britische Gesellschaft ist heute extrem gespalten, aber im Parlament findet das keinen Niederschlag.

Wie beurteilen Sie die Reaktionen zu ihrem Tod?

Unvermeidbar, aber ein Zeichen der Verzweiflung. Wäre sie politisch besiegt und ihr Erbe rückgängig gemacht worden, hätte man ihren Tod wohl ignoriert. Aber Gesänge wie „The Witch is Dead“ zu hören, lässt einen schon zusammenzucken.

Entspricht das heutige Großbritannien Thatchers Vorstellungen?

Abgesehen von Schottland – zweifelsohne.

Wer ist ihr wahrer Erbe?

Tony Blair, Gordon Brown und David Cameron machten kein Geheimnis aus ihrer Bewunderung für Thatcher und ihre Politik. Wenn er in Form ist, schafft Blair sogar noch ein paar Tränen auf ihrem Begräbnis.

Welche Lektionen können aus ihrer Amtszeit gezogen werden?

Ebenso wie damals ist das Land heute ohne ernst zu nehmende Opposition.

Wie wird sie in die Geschichtsbücher eingehen?

Ich habe immer bedauert, dass ihre Karriere durch einen Putsch ihrer eigenen Partei beendet wurde. Manche sahen sie als Märtyrerin. Es wäre viel besser für das Land gewesen, wenn sie vom Volk abgewählt worden wäre. Thatchers Gegnern möchte ich das Wort von Spinoza empfehlen: „Lache oder weine nicht, sondern verstehe.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.04.2013)

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