Christine Gaigg: Skandalrituale

Was verbindet die Aufregung um Strawinskys „Sacre du printemps“ mit Pussy Riot? Choreografin Christine Gaigg schlägt Brücken zwischen den beiden Ereignissen.

Ein Skandal feiert Jubiläum. Jener um Strawinskys „Sacre du printemps“ in Paris im Jahr 1913. Aufregend sind die „Bilder aus dem heidnischen Russland“ immer noch, aber auch jene aus dem heutigen Russland: 2012 wurden Mitglieder der Punkrock-Band Pussy Riot nach einem Auftritt in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale verhaftet. „Sakrileg“ empörte sich der Pa­triarch der russisch-orthodoxen Kirche; „Sakrileg“ warf das Pariser Publikum auch Strawinsky und Nijinsky vor. 2012 fühlte sich die Kirche beleidigt, 1913 die Kunst. „Da wurde jedes Mal ein wunder Punkt der Gesellschaft getroffen“, meint die österreichische Choreografin Christine Gaigg. Sie ging auf die Suche danach, was die dekadente Noblesse in Paris und die Allianz von Kirche und Staat in Moskau eint. Gaigg verschränkt die Aktion(en) von Pussy Riot mit Szenen aus der Originalchoreografie von Nijinsky und baut mit dem Klangregisseur und Komponisten Florian Bogner eine Abfolge von Szenen. Die Uraufführung von „DeSacre!“ wird in einem sakralen Raum stattfinden, in der Josephskapelle der Hofburg. Die Module aus dem „Sacre“ werden durch die originalen Szenenüberschriften unterstrichen, die Bewegungssprache von Pussy Riot wird durch Zitate von Texten der Gruppe und veröffentlichten Kommentaren veranschaulicht.

Zuschauer geraten in einen Sog. Gaigg ist mit dem „Sacre“ längst vertraut, hat sie doch schon 2000 in den Sofiensälen und ein Jahr später im Hof des Museumsquartiers ihr „Frühlingsopfer“ dargebracht. „Sacre Material“ verstand sie als „musikalisch-choreografische Versuchsanordnung“ basierend auf der Auseinandersetzung mit Komposition und Choreografie. Max Nagl hatte die Originalpartitur mit eigenen Kompositionen ergänzt. Was Gaigg interessiert hat, war die rituelle Struktur des stilprägenden Werkes. „Damals habe ich zum ersten Mal sozusagen meine ‚Marke‘ vorgestellt, indem es das gesamte Stück hindurch keine Narrativität gibt, sondern sich Bewegungsmodule in einer systematischen Abfolge wiederholen, sodass die Zuschauer in einen Sog geraten, aber gar nicht genau wissen, warum oder was sich da wiederholt. Und das ist das, was ich in der Folge immer wieder gemacht habe.“ In „Maschinenhalle#1“ (Uraufführung beim „Steirischen Herbst“ 2010), bei „Trike“ (Premiere im Theater am Neumarkt, Zürich 2005) und allen Folgestücken (zuletzt „M-Trike“, Schauspielhaus 2012). Auch in „Über Tiere von Elfriede Jelinek“ (Zürich 2007) verwendet Gaigg sogenannte Loops, Bewegungssequenzen, die in einer Schleife, minimal verändert, ablaufen.

In der jüngsten choreografischen Arbeit zu einem Text von Xaver Bayer, „Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen“ (Premiere im Schauspielhaus 2012), wurde der Text zur Musik. Struktur und Rhythmus der Prosa inspirierten sie, dem Text „etwas Körperliches“ entgegenzusetzen. „Damit dieses Komplementäre überraschend und auch gefährlich ist, improvisieren die Tänzer das ganze Stück hindurch.“ Theaterkritiker wie Tanzaffine waren begeistert. In ihrem Œuvre mag Gaigg ein „unpopuläres“ Kind am allerliebsten: „,Adebar/Kubelka‘, das ich von dem knapp einminütigen Film ,Adebar‘ von Peter Kubelka abgeleitet habe, der einen genauen Bauplan hat. Diesen Bauplan haben Max Nagl als Komponist und ich als Choreografin auf fünf Tänzerinnen und den Raum umgelegt. Unsere Arbeit war es, das zugrunde liegende Prinzip zu finden. Der Erfolg war mäßig, und das Stück ist auch nach den vier Vorstellungen 2003 nie wieder aufgeführt worden.“ Dennoch oder gerade deshalb hat sie es ins Herz geschlossen.

Die zweite Natur untersuchen.
Originalität gewinnen Gaiggs Werke, produziert unter dem Label „2nd nature“, auch durch die Zusammenarbeit mit Komponisten Neuer Musik (Max Nagl, Bernhard Lang, Bernhard Gander). Statt Bewegung zu vorhandener Musik zu komponieren, ist ihr Ziel, Strukturen aufzudecken. Gaigg hat Philosophie und Linguistik studiert. Ihre Tanz- und Choreografieausbildung erhielt sie an der School for New Dance Development in Amsterdam. Dort hat sie später auch unterrichtet. Seit 1996 ist Gaigg Lektorin für Performancetheorie am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien. „Die Studenten haben meistens noch gar keine Berührung mit Performance gehabt und sind oft ganz verwirrt, wenn sie sich eine Vorstellung angesehen haben. Es ist eine Übung, und sie sind gezwungen, sich Gedanken zu machen.“

Wie kam nun „DeSacre!“ zustande? Gaigg: „Natürlich war die Idee vom Jubiläum, 100 Jahre ‚Sacre‘, inspiriert. Dann erhielt ich das Angebot, in der Josephskapelle der Hofburg aufzutreten. Diese Familienkapelle der Habsburger mitten in der Präsidentschaftskanzlei wird zwar heute hauptsächlich für kulturelle Veranstaltungen benützt, ist aber immer noch eine Kirche. Als ich den Ort mit dem ‚Sacre‘ im  Hinterkopf besucht habe, fiel mir gleich Pussy Riot ein. Es war eine Angelegenheit von zwei Wochen, bis ich die beiden Themen zusammengebracht habe.“ Dabei fand sie immer mehr Überschneidungen in der Bewegung der beiden Formationen: „Ich habe festgestellt, dass das gestische Material von Pussy Riot auch im ,Sacre‘ vorkommt. Das war mir anfangs gar nicht bewusst. Es gibt einfach sehr viele Gemeinsamkeiten. Mir kam auch der Gedanke, dass Pussy Riot auf eine gewisse Art geopfert worden sind. Der springende Punkt aber war für mich, dass die Aktion in einer Kirche gemacht worden ist, und da beschäftigt mich der Blasphemievorwurf. Gerade in diesem Ort, den ich für die Premiere zur Verfügung habe, kann ich diese Frage stellen. Im Vergleich dieser winzigen Aktion – zu der eigentlichen Performance sind sie ja gar nicht gekommen – zur Strafe und auch zur Aufregung danach muss man sich fragen, welcher Schaden entstand denn dadurch für die Religion?“ Die Frage, ob sie eine politische Choreografin sei, beantwortet Christine Gaigg in spontanem Fortissimo: „Ja!“

TIPP

Christine Gaigg/2nd nature „DeSacre!“ 24. April Josephskapelle, Hofburg, Anmeldung: Tanzquartier. „DeSacre!“ eröffnet das Minifestival „Feedback“ von 24. bis 27. 4., u. a. mit Luke Baio, Milli Bitterli, Alex Deutinger, Marta Navaridas und Claudia Bosse, die in der ehemaligen Zollkantine „designed desires“ zeigt. www.tqw.at

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