Die Tätersuche einer nervösen Nation

Amerika ist zwölf Jahre nach den Anschlägen vom 11. September erneut im Alarmzustand. Auf der Suche nach den Tätern und Motiven blühen falsche Gerüchte und Vorverurteilungen.

Boston. An einem Frühlingsnachmittag in Boston stehen soignierte Herren in Anzug und Krawatte und Damen im Twinset auf der Boylston Street und halten Kochtöpfe in die Kameras. 200 Meter von ihnen entfernt sind am Montag drei Menschen zu Tode gekommen und 176 weitere zum Teil schwer verletzt worden. Wer dafür verantwortlich ist, weiß vorläufig niemand. Doch die Öffentlichkeit will Gewissheiten. Und so schwenken die Reporter von CNN, ABC, CBS, Fox News und unzähligen anderen Fernsehsendern Kochtöpfe, um die Bauweise der beiden Bostoner Sprengsätze zu veranschaulichen.

„Es fühlt sich wie 9/11 an“, sagt die Buchhalterin Helen, als wir an einem dieser Bostoner Tage wieder einmal auf die U-Bahn warten, die nach den Anschlägen vom Montag besonders oft verspätet zu sein scheint. Die Parallelen zur Stimmung in Amerika nach dem 11.September 2001 stechen ins Auge. Damals wie heute wiegten sich die Amerikaner daheim in Sicherheit. Damals wie heute traf der Terror ein Symbol amerikanischer Identität. Damals wie heute folgte unmittelbar auf die Anschläge eine Reihe rätselhafter giftiger Briefe.

Und ebenso wie damals vor zwölf Jahren verrennt sich eine nervöse Gesellschaft in Mutmaßungen, Vorverurteilungen und neuzeitlichen Hexenjagden.

Der saudische Marathonmann

Kaum hat sich am Montag der Rauch über dem Unglücksort im Herzen Bostons verzogen, marschieren bereits Polizisten in die Wohnung eines 20-jährigen Studenten aus Saudiarabien, der währenddessen verletzt im Spital liegt. Sie packen sein Hab und Gut in Säcke, verhören seinen verängstigten Mitbewohner fünf Stunden lang, gefolgt von einem Tross an Reportern. „Hören Sie, lassen Sie mich in Ruhe in den Unterricht gehen“, fleht er einen Fox-News-Reporter an, der ihm gebetsmühlenartig die Frage stellt, ob er sicher sei, nicht unter einem Dach mit einem Mörder gelebt zu haben.

176 Menschen wurden verletzt. Einer von ihnen ist Araber. Nur seine Wohnung wird durchsucht. Er sei eine „person of interest“, lassen die Behörden verlauten. Schnell wurde daraus ein „Verdächtiger“. Und schnell wird sein Name im Internet als wahrscheinlicher Terrorist herumgereicht. Als die Polizei tags darauf erklärt, der junge Saudi sei nicht mehr interessant, nimmt das die Öffentlichkeit nicht mehr wahr. Denn da macht bereits die Meldung von einem „dunkelhäutigen jungen Mann“ die Runde, der als Tatverdächtiger von einer Kamera aufgenommen worden und bereits im Bostoner Bundesgerichtsgebäude inhaftiert sei. Eilig rücken die Journalisten dorthin aus, bloß um von der Justizverwaltung des Hauses verwiesen zu werden. Kein Verdächtiger, kein Inhaftierter, raus aus dem Gebäude. Als ein FBI-Agent um 17 Uhr Ortszeit im Westin-Hotel neben dem Anschlagsort, dem spontan eingerichteten Medienzentrum, vor die Kameras tritt, ist die Spannung zum Bersten. Und sie birst: Er könne nichts verkünden, das FBI brauche noch Zeit, die Pressekonferenz sei auf unbestimmte Zeit vertagt. Auch „Die Presse“ kehrt mit leerem Notizblock in ihre Unterkunft zurück.

Neuzeitliche Hexenjäger

Wo die alten Medien in der Sinnsuche scheitern, schlagen sich die neuen nicht besser. Auf Reddit, einer populären Website, auf der man Nachrichten persönlich zusammenstellen und gegenseitig bewerten kann, bildet sich rasch eine Gruppe namens „findbostonbombers“. Schnell schießen sich diese neuzeitlichen Hexenjäger auf zwei amerikanische Jugendliche marokkanischer Herkunft als Verdächtige ein, bloß weil sie mit Rucksäcken im Zielraum unterwegs waren. Dabei handelt es sich bei ihnen um Highschool-Leichtathleten aus Massachusetts.

Doch die überreizte Öffentlichkeit verlangt Kausalitäten. Als in der Nacht auf Donnerstag eine Chemiefabrik in der texanischen Stadt West explodiert, kursieren sofort die Verschwörungstheorien. West liegt 20 Meilen (rund 32 Kilometer) von Waco entfernt. In Waco kam es bei einem Feuergefecht zwischen Polizei und Anhängern der Davidianersekte am 19.April 1993 zu einem Massaker mit 86 Toten: also vor genau 20 Jahren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.04.2013)

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