Schreib das auf, Kisch!

Im Juni 1937 macht sich ein Tiroler auf, um im Spanischen Bürgerkrieg aufseiten der Republikaner zu kämpfen. Egon Erwin Kisch hat seine Geschichte einst aufgeschrieben, jetzt liegt sie wieder vor. „Die drei Kühe“: ein Autor und sein Held – und kluge Anmerkungen zu beiden.

Seine Bücher sind antiquarisch leicht zu bekommen, aber der Aufbau Verlag, in dem sein Gesamtwerk erschienen ist, führt ihn nicht mehr im Autorenregister. Fast hat es den Anschein, als würde der nach ihm benannte Journalistenpreis eines Hamburger Verlegers für bedeutsamer erachtet als er selbst. Lebte er noch, würde man ihn wohl nur im Osten des vereinten Deutschlands auf der Straße erkennen. In seiner Geburtsstadt Prag immerhin wird die Büste auf seinem Grabmal alle paar Monate gestohlen. In Frankreich und Mexiko, wo er vor den Nazis Zuflucht fand und auf Entdeckungen aus war, hat man ihn vergessen. In Spanien ist er unbekannt, trotz des dort erwachten Interesses an deutschsprachigen Autoren aus den Nachfolgestaaten der Donaumonarchie. Der Schweizer Niklaus Meienberg hat ihn als Vorbild genannt, und in Österreich Florian Klenk. Ihre Wertschätzung ehrt sie und ihn. Das unpassende Prädikat, das man ihm zu Lebzeiten verliehen hat, ist vielen geläufiger als sein Name. Der rasende Reporter. Egonek. Schreib das auf, Kisch!

Aufschreiben also auch die Geschichte des Tiroler Kleinbauern Max Bair, und wie er nach Spanien gelangt ist. Sie hat die publizistische Nachwelt beinahe ebenso oft beschäftigt wie eine umfangreiche Reportage, die Kischs frühen Ruhm begründet hatte: über Oberst Alfred Redl, der 1913 Selbstmord beging, nachdem er als russischer Spion enttarnt worden war. Der österreichische Generalstab hatte die Affäre geheim gehalten, Kisch machte sie publik. Sein Buch lieferte den Stoff für fünf Filme und ein Theaterstück. Dagegen haben „Die drei Kühe“ nie den Weg ins Kino oder auf die Bühne gefunden. Aber nachgeborene Kollegen des Autors – nicht immer solche, die sein literarisches Vermögen und seine politische Haltung teilten – haben diese Geschichte fort-, dabei gelegentlich auch voneinander abgeschrieben, indem sie den weiteren Lebensweg des Protagonisten schilderten, der unter dem Namen Martin Jäger vor zwölf Jahren in Berlin verstorben ist.

In seiner Heimatgemeinde Steinach am Brenner hatte Max Bair im Juni 1937 drei Kühe verkauft. Mit dem Erlös konnten sich er und seine mittellosen Gesinnungsgenossen Johann Winkler, Ludwig Geir und Stefan Zlatinger Fahrkarten nach Paris kaufen, um von dort nach Spanien aufzubrechen, in den Bürgerkrieg, in dem sie aufseiten der Republik kämpften. Ungewöhnlich an dieser Episode ist zweierlei: dass gerade ein im katholisch-konservativen Milieu aufgewachsener Landwirt der vom Klerus angefeindeten spanischen Republik zu Hilfe eilt; und dass er sich die Reise dorthin durch Verzicht auf seinen Viehbestand finanziert. Kein Wunder also, dass Kisch, der während eines Besuchs beim Österreicher-Bataillon der XI. Internationalen Brigade auf Bair aufmerksam wurde, dessen Geschichte aufgeschrieben hat, gehört sie doch zu jenen, „in denen Heldentum nicht aus physischer Überlegenheit, sondern am Grad der intellektuellen Entwicklung gemessen wird, den die Figuren in Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt zu erreichen imstande sind“.

Das schreibt der junge Südtiroler Historiker Joachim Gatterer im Nachwort zu der von ihm besorgten Neuausgabe der „Drei Kühe“, mit der die Illustrationen des katalanischen Plakatmalers Amado Oliver Mauprivez für die 1938 in Madrid erschienene Erstveröffentlichung wieder zugänglich werden. Sein Aufsatz und die angeschlossenen Dokumente – amtliche Schreiben, Artikel, Briefe sowie ein von Bair/Jäger in der Pension verfasster Lebenslauf – sind viel umfangreicher als die 30 Seiten schmale Erzählung.

Mehr noch als Detailfreude und editorische Verlässlichkeit bestechen Gatterers Einsichten; er weiß über Stoff und Gestaltung wahrlich Erhellenderes mitzuteilen als die meisten Literaturwissenschaftler. Etwa über Kischs Verzicht darauf, Bairs Verhalten zu kommentieren: „Menschen gänzlich erklären zu wollen, hieße, ihnen ihren Charme zu nehmen, sie zu domestizieren. Es hieße nicht, sie kennenzulernen.“ Oder: Kisch „lernte von Zola vor allem, gedanklich in sein Studienobjekt einzutauchen, die sozialen Bindungen zu Mensch und Milieu aus der Realität herauszulesen, Essenzen daraus in Textform nüchtern miteinander zu verbinden und verbliebene Lücken mit ,logischer Fantasie‘ zu schließen“. Bedenkenswert ist auch die Begründung, die Gatterer für Kischs Unfähigkeit anführt, wie geplant einen Zyklus von Geschichten und Reportagen aus dem Spanischen Bürgerkrieg fertigzustellen. Kisch sei durch „die allerorts spürbare Euphorie“ in seinem Schreiben nicht beflügelt, sondern gelähmt worden. Vielleicht wäre die Lähmung nachher, in Frankreich, von ihm gewichen. Aber da hatte schon der Zweite Weltkrieg eingesetzt, und es ging auch für ihn um Kopf und Kragen.

„Sind die ,Drei Kühe‘ Tiroler Literatur?“ Mit dieser naheliegenden und doch verblüffenden Frage eröffnet Gatterer einen Exkurs, in dem er sowohl Kischs ältere Zeitgenossen Franz Kranewitter und Karl Schönherr als auch die heimatkritische Südtiroler Literatur der vergangenen Jahrzehnte betrachtet. Für Erstere konstatiert er, dass ihre Helden – als Beispiel nennt er die Magd Trine aus Schönherrs Komödie „Erde“ – bei ihren Ausreißversuchen scheitern, „weil sie sich im Gegensatz zu Max Bair eine Welt jenseits der Provinz gedanklich nicht vorstellen“ können; jenen Südtiroler Autoren wiederum, die „ein Überwinden der Provinz im Stile Bairs mit Vehemenz thematisierten“, sei zwar die physische Emigration gelungen, nicht aber die geistige, weswegen sie sich weiterhin an ihrer Herkunftsregion abrackern. „Meist lassen sie ihre Hauptfiguren in Schwermut versanden, lediglich Teilerfolge erzielen und dadurch (analog zu Schönherr und Kranewitter) in Summe die scheinbare Unmöglichkeit eines geistigen Ausbruchs zementieren.“ Sympathisch ist Gatterers Vorschlag, Kisch und Bair lieber zu den Romanen John Steinbecks oder Jack Londons zu rücken. „Kisch ist Weltliteratur, in einer Form, wie es sie in Tirol wohl nie gegeben hat.“

„Wer geistig ausbricht, kann physisch nicht mehr zurückkehren, ohne seine alte Welt zu verändern oder ideellen Bankrott zu erklären.“ Auch dieser Satz findet sich bei Gatterer. Eine Lebensweisheit, gelassen ausgesprochen, aber nicht kühn ersonnen: Er belegt sie anhand der wechselvollen Biografie Max Bairs, der Tiroler Boden ab 1947 nur noch selten betreten hat. Was ihm nach der Begegnung mit Egon Erwin Kisch alles widerfahren und gelungen ist, kann man bei Gatterer ebenso nachlesen wie in Friedrich Stepaneks Buch über die „Lebenswege Tiroler Spanienkämpfer“, das an dieser Stelle schon gewürdigt wurde. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2013)

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