Lawrence Kohlberg hat, um die verschiedenen Stadien des moralischen Denkens zu erklären, ein berühmtes Beispiel erfunden: die Geschichte von Heinz, dem verzweifelten Ehemann.
Es war der berühmte Psychologe Jean Piaget, der als Erster die moralische Entwicklung von Kindern in einzelne Stufen einteilte. Sein Mitarbeiter Lawrence Kohlberg (1927–1987) hat sie erweitert – und dabei eine der berühmtesten Geschichten der Psychologie erfunden: Sie handelt von Heinz, dessen Frau an einer seltenen Krebsart erkrankt ist, die nur von einer bestimmten Medizin geheilt werden kann – der Apotheker im gleichen Ort hat sie entdeckt. Der verlangt dafür 20.000 Dollar, das Zehnfache des Materialpreises, einen Betrag, den der liebende Mann nicht aufbringen kann. Nachdem er alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, sind gerade einmal 10.000 Dollar zusammengekommen. Nun bittet er den Apotheker, ihm das Medikament billiger zu geben, doch der lehnt ab: „Ich habe das Mittel entdeckt, ich möchte damit viel Geld verdienen.“ Die Frage an die Kinder: Darf nun Heinz in die Apotheke einbrechen und das Medikament stehlen?
Von den Antworten auf diese Geschichte leitet Kohlberg verschiedene Stufen der moralischen Entwicklung ab. Auf Stufe eins und zwei fürchten die Kinder die Strafe, die Heinz drohen könnte („Er kann dafür ins Gefängnis kommen“), oder sie denken an Vorteile, die Heinz später einmal aus seinem Handeln erwachsen könnten („Seine Frau könnte ihm eines Tages auch einen Gefallen tun“). Auf Stufe drei und vier, die oft im jugendlichen Alter erreicht werden, argumentieren sie mit Werten, wobei sich diese Werte stark unterscheiden können: Während die einen auf Law und Order bauen („Jeder Respekt vor dem Gesetz wird zerstört, wenn Bürger glauben, Gesetze brechen zu können, mit denen sie nicht übereinstimmen“), heben andere die Verantwortung jedes Einzelnen für den Nächsten hervor. Wie gesagt: gleiche Stufe, aber gegensätzliche Antworten sind möglich.
Auf Stufe fünf werden das Recht auf Eigentum und das Recht auf Leben abgewogen, auf Stufe sechs berufen sich die Befragten auf etwas, was Kohlberg „universelle ethische Prinzipien“ nennt: „Die Gesellschaft muss Heinz zwar bestrafen, aber vor Heinz' Gewissen kann das Leben seiner Frau höher stehen als das Gesetz.“ Kohlbergs Stufentheorie beschreibt natürlich nicht die moralische Entwicklung selbst, sondern die Entwicklung des moralischen Denkens – über das Verhalten geben die Antworten der Befragten keine Auskunft. Kritisiert wurde unter anderem Kohlbergs Annahme, die Entwicklung ginge stets in eine Richtung – er schloss die Regression in ein früheres Stadium aus (etwa bei Jugendlichen) –, und dass er sie als universell, also über alle Kulturen und Zeiten hinweg, gültig erachtete. best
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2013)