Kritiker müssen ausharren, das erfordert ihr Beruf. Aber das übrige Publikum hat das Recht auf Flucht.
Bühnen sind Weihestätten. Zumindest soll sich das griechische Trauerspiel einst vor 2500 Jahren aus dem Dienst an den Göttern entwickelt haben. Wie also darf sich der profane Zuseher heute verhalten, wenn er den Preis für die Eintrittskarte entrichtet und sich brav ins Parkett gesetzt hat, das Gebotene aber gar nicht gut findet? Man geht doch auch nicht bei einer Messe mitten in der Wandlung ab und lässt das Kirchentor donnernd hinter sich zufallen.
Was also macht der Theaterliebhaber, wenn King Lear dilettantisch winselnd auf der Heide herumirrt und doch noch lange kein Ende abzusehen ist? Für die Zunft der Kritiker ist klar: Tapfer wird bis zum Schluss ausgehalten und auch fleißig mitgeschrieben, während die anderen diskret flüchten dürfen. Man bleibt sitzen, bis die letzte Verbeugung erfolgt, der Schlussapplaus verklungen ist. Der Kritiker hat danach noch ausreichend Gelegenheit, seinen Unmut schriftlich zu fixieren.
Ganz anders aber ist es für die Übrigen. Sie können dem Anlass gemäß sofort handeln. Fühlen Sie sich verhöhnt? Höhnen Sie zurück, nach der Aufführung, so freigiebig, wie Sie bei einer gelungenen Aufführung jubeln. Die Zeiten aber, in denen es sogar Zwischenapplaus gab oder muntere Zurufe, sind leider vorbei. norb
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2013)