Expertise zählt heute mehr als gute Manieren. Regierungschefs wie Angela Merkel entdecken den Mut zur Zivilcourage.
Wien. In einem früheren Jahrhundert hätte der Fauxpas des Präsidenten womöglich eine Grenzfehde, wenn nicht gar einen Krieg heraufbeschworen. Heute waren hingegen „nur“ die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den südamerikanischen Nachbarn am Rio de la Plata gefährdet, als sich Uruguays Präsident José Mujica neulich in einem unbedachten Moment „verplapperte“.
Als er die Mikrofone ausgeschaltet wähnte, zeterte er über die argentinische Präsidentin Cristina Kircher: „Die Alte ist schlimmer als der Einäugige. Er war politisch, sie ist stur.“ Mit dem „Einäugigen“ war Kirchners verstorbener Mann Nestor gemeint, ihr Vorgänger als Präsident. In den Medien sorgte der Lapsus sogleich für Furore, Argentinien zitierte den Botschafter Uruguays ins Außenministerium. Damit war die Causa fürs Erste abgehakt, die diplomatischen Irritationen freilich bleiben im Raum. Denn Mujica weigerte sich, auf „Entschuldigungstour“ zu gehen, wie er es formulierte. Buenos Aires denkt im Gegenzug nicht daran, die Handelsrestriktionen aufzuheben – ganz im Gegenteil.
Wie man nicht miteinander umgeht: Der bilaterale Disput, ein klassischer Fall für das Handbuch zur Diplomatenausbildung, wie er an der Diplomatischen Akademie in Wien auf dem Programm stehen könnte – seit der Monarchie die Kaderschmiede des diplomatischen Dienstes. „Das Bild des Diplomaten hat sich gewandelt“, konstatiert Albert Rohan, der Doyen der österreichischen Diplomatie. „Die Expertise ist heute stärker gefragt als gute Manieren.“
Eklats auf Diplomatenebene haben ohnedies Seltenheitswert, nur der türkische Botschafter schlug im Gespräch mit der „Presse“ einst mit seiner Kritik am Gastland über die Stränge. Im Gegensatz zu Affronts auf allerhöchster Ebene, wie sie etwa Italiens Ex-Premier Silvio Berlusconi in Serie geliefert hat. Der „Cavaliere“, so sein Ehrentitel, beleidigte halb Europa, von Angela Merkel bis zu den Finnen, mit Spott und Sottisen.
Rohan stellt ein oberstes Prinzip, ein „erstes Gebot“, auf: „Man darf nicht lügen. Früher oder später fliegt man damit auf. Und man verspielt so das Vertrauen des Gegenübers.“ Im Nachsatz bemerkt der Ex-Generalsekretär des Außenministeriums und Kosovo-Vermittler mit reicher UN- und Balkan-Erfahrung: „Dass man die ganze Wahrheit sagt, ist auch nicht üblich.“ Die Diplomatie als Balanceakt.
Als Richtlinie diplomatischer Usancen empfiehlt er: „Ich bin immer besser gefahren, wenn ich offen meine Meinung gesagt habe. Da darf man sich auch mehr erlauben – vor allem unter Freunden.“ Es sei jedoch unerlässlich, zwischen der eigenen Meinung und dem offiziellen Standpunkt der Regierung zu unterscheiden. Und er weist auf ein striktes Tabu hin: „Man darf die eigene Regierung nicht offen kritisieren.“
Absolut verpönt ist darüber hinaus die Aufzeichnung eines Gesprächs mittels moderner Medien wie dem Smartphone. WikiLeaks markierte insofern eine Zäsur für die internationalen Beziehungen in der Internetära.
Am schwierigsten sei der Kontakt mit Diplomaten der früheren Sowjetunion und der DDR gewesen, erinnert er sich. „Die haben sogar im kleinsten Kreis die offizielle Version heruntergeleiert.“ Heute sei der Umgang mit Arabern und Chinesen am sensibelsten. Für die Chinesen gehe es darum, das Gesicht zu wahren – generell eine habituelle Eigenheit der Asiaten. Alle westlichen Staats- und Regierungschefs, die den Dalai-Lama empfingen, können ein Lied davon singen.
Rituelle Drohungen Pekings
Wie hältst du es mit dem Dalai-Lama? Die Frage wurde zum Indikator der politischen Courage. Barack Obama und Angela Merkel ließen sich von den rituellen Drohungen Pekings anfangs einschüchtern. Verstohlen kam das politisch-religiöse Oberhaupt der Tibeter durch die Hintertür der westlichen Staatskanzleien. Dies hat sich mittlerweile geändert – anders als die Unmutsäußerungen der Chinesen.
Gerade die deutsche Kanzlerin hat den Mut zur Zivilcourage entdeckt und setzt bisweilen die Floskeln außer Kraft. Wo ihr Vorgänger Gerhard Schröder Russlands Präsidenten Wladimir Putin als „lupenreinen Demokraten“ pries, scheut Merkel nicht die Kritik an Menschenrechtsverletzungen. Bei Besuchen in Moskau und Peking pflegt sie sich am Rande mit heimischen Menschenrechtsgruppen zu treffen. Auch bei der Empörung über die Festnahme der ukrainischen Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko stellte sie sich an die Spitze der europäischen Front – wie der schwedische Außenminister Carl Bildt, der kaum einem Konflikt aus dem Weg geht.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2013)