Grassiert die Selbstsucht wie noch nie? Weltgeschichte und Spieltheorie zeigen das Gegenteil: Der Altruismus schreitet voran.
Den „Siegeszug einer Ideologie, für die der Egoist der bessere Mensch ist“, geißelt Frank Schirmacher in seinem neuen Buch – „Ego – Das Spiel des Lebens“ –, in dem er die Selbstsucht sich aufblähen sieht wie noch nie. Das komme erstens vom Kalten Krieg – vom Gegeneinander der zwei Blöcke –, und zweitens noch einmal vom Kalten Krieg bzw. seinem Ende: Die arbeitslos gewordenen Atombombenphysiker seien in die Dienste der Banken getreten und bastelten nun Börsenbömbchen. Der dritte Schurke ist die Spieltheorie, die – etwa im „Gefangenendilemma“ – jeden Spieler darauf abrichte, „auf Kosten des anderen einen Vorteil zu erhalten“.
Nun mag Schirmacher die einflussreichste Feder im deutschsprachigen Feuilleton führen, hier aber irrt das Hirn der „FAZ“: Der Egoismus ist nicht größer als früher, sondern kleiner, und was der Kalte Krieg und sein Ende mit Egoismus zu tun haben sollen, ist rätselhaft. Völlig unerfindlich gar ist die Schuldzuweisung an die Spieltheorie: Die verfolgt gerade das Gegenteil des Egoismus, nämlich Altruismus, Fairness und Kooperation. Die sind erklärungsbedürftig in einer Welt, in der für Biologie wie Ökonomie alles auf Eigennutz basiert – Charles Darwin und Adam Smith haben viel gemeinsam – und jeder sich selbst der Nächste ist.
Dass das nur die halbe Wahrheit ist, zeigen Prominente auf Charity-Veranstaltungen: Dort sorgt die TV-Kamera dafür, dass Menschen edel, hilfreich und gut werden –, in größerem Ernst praktizieren es Mitglieder freiwilliger Feuerwehren. Und dass es in Sachen Egoismus und seinen Weiterungen – bis zum Durchsetzen von Interessen mit Mord und Totschlag – nicht ärger wird, sondern besser, das zeigt die Weltgeschichte: In der Steinzeit fanden 15 Prozent aller Menschen den Tod durch die Hand anderer, im 20. Jahrhundert waren es drei Prozent.
Natürlich stiegen die absoluten Zahlen, aber die relativen fielen: „Wir leben heute wahrscheinlich im friedlichsten Moment der ganzen Zeit, die unsere Art auf der Erde verbracht hat“, urteilt Harvard-Psychologe Steven Pinker, der die Gewaltbilanz gezogen hat. Er erklärt diesen Fortschritt mit dem der „Vernunft, die uns erlaubt, die Welt zu verstehen und Ideen auszutauschen und soziale Vereinbarungen auszuhandeln“.
Das klingt gut, hat aber wenig Gehalt, deshalb suchen Psychologen nach den Details, indem sie Testpersonen etwas spielen lassen. Das Gefangenendilemma etwa: Die Polizei hat zwei Mitglieder einer Bande gefasst, aber keine Beweise. Also bietet sie jedem der beiden – sie sind voneinander isoliert – einen Deal: Wenn er den anderen verpfeift, geht er frei, der andere bekommt drei Jahre. Aber so einfach ist es nicht: Wenn beide nichts sagen, erhält jeder ein Jahr, und wenn beide einander verpfeifen, werden es je zwei Jahre. Was tun? Ein Abrichten auf Egoismus ist das wahrlich nicht, sondern eine verteufelt schwierige Situation, in der beide am besten den Mund halten – und darauf vertrauen, dass der andere es auch tut.
Das Spiel wird rasch kompliziert, vor allem, wenn es über viele Runden geht. Einfacher ist das Ultimatumspiel, auch in ihm erkundet man Egoismus und Altruismus und was in ihn hineinspielt, das Gespür für Fairness, das Pochen auf Gerechtigkeit. In diesem Spiel erhält A vom Spielleiter Geld, echtes – z. B. 20 Euro –, er kann B davon abgeben, so viel er will, auch nichts. Aber B redet ein Wörtchen mit, er kann das Angebot ablehnen, dann erhalten beide nichts.
Ein Durchschnitts-A bietet zwischen 40 und 50 Prozent an – Egoismus? –, ein Durchschnitts-B lehnt alles unter 30 Prozent ab, lieber will er Gerechtigkeit als Brosamen. Aber dieser Durchschnitt gilt nur in Industriegesellschaften, ein Hazda – Jäger und Sammler – bietet nur 30 Prozent. So schlägt die Organisation des Lebens durch und drängt im Zuge der Modernisierung den Egoismus zurück. Die Natur hilft auch: Wer gibt, dem wird gegeben, Wohlbehagen: Beim Geben wird im Gehirn die Region aktiv, die sonst auf Nahrung, Drogen und Sex reagiert. Und wenn einer nun einmal so ist, wie in Schirmachers Augen alle sind? Dann weiß Evolutionsbiologe Manfred Milinski (Plön) Rat, er hat die Macht des Blicks erkundet, die wirkt nicht nur bei der TV-Kamera: „Beobachter sollten sozialen Partnern das Gefühl des Beobachtetwerdens vermitteln, damit das altruistische Verhalten das ,normale‘ wird.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2013)