Das große, traute Wirgefühl

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Uraufführung im Volkstheater: "Das Kind" von Jacqueline Kornmüller ist eine bezaubernde, erschreckende Performance. Sie zeigt aber auch die Grenzen des Formats "Reality-Theater" auf und erinnert daran, dass Kunst letztlich künstlich ist.

Ein Strom von Doku- und Datenmaterial (siehe Interview mit Peter Weibel S. 42) umspült uns: Erdbeben im Iran, Bürgerkrieg in Syrien, Terror in Amerika, Mord im Gemeindebau. Was berührt noch wirklich? Nicht spontaner Zorn und der daraus resultierende Redestrom – der an einen Stücktitel von Peter Handke erinnert – sind hier gemeint: Mit dem Spiel vom Fragen reisen wir tagtäglich ins sonore Land.

Sonor heißt klangvoll, doch der Klang tönt oft hohl. Auch im Theater, wo die Kunst mitunter eine Künstlichkeit erreicht, die jede natürliche, tiefere Reaktion dämpft. Im Zuschauerraum dominiert das Staunen über die Virtuosität in Bildern und Worten, das sich zuletzt wieder bei Matthias Hartmanns Inszenierung von Grillparzers „Ahnfrau“ eingestellt hat. Mit der Katharsis, die doch auch ein wichtiges Anliegen der Kunst ist, haben solche Erlebnisse dann aber doch wenig zu tun.


Sich selbst spielen. Und dann gibt es Theater, das quasi außer Konkurrenz stattfindet, Laien führen ihr eigenes Leben vor. Im Fernsehen ist so etwas oft peinigend für Menschen, die noch einen Hauch Scheu fühlen: Fremdschämen ist angesagt. Auf der Bühne wirkt Reality-Theater paradoxerweise oft umso banaler, je dramatischer es ist, etwa wenn es pathetisch von echten Katastrophen auf fernen Kontinenten erzählt. Und jetzt kommen wir zu Jacqueline Kornmüller, deren jüngste Kreation seit Freitag im Volkstheater zu sehen ist: „Das Kind“ folgt auf ähnliche theatrale Materialsammlungen bei Migranten und Senioren. Der alte Mann, der von einem Nazi-Erzieher in Uniform mit Reitpeitsche missbraucht wird, der Teilzeitpflegevater, der misshandelte Babys in den Schlaf wiegt, die Tochter eines Sadisten, die vom Regen in die Traufe kam, vom gewalttätigen Vater zur Folter während der Militärdiktatur in Argentinien, das ist die furchtbare Kindheit – die auch gleich an einem praktischen Beispiel vorgeführt wird: Disziplinierung und Demütigung einer Besucherin, die angeblich ihr Handy nicht ausgeschaltet hat. Es gibt aber auch das Lichte: Die Frau mit den acht Kindern, die Großeltern, die erstmals ihren Enkel kennen lernen, Philemon und Baucis aus Spanien, die sich in der Franco-Zeit fanden, Mutter und Tochter, die sich im Pflegeheim versöhnen. Das Lichte verschwimmt mit dem Ambivalenten und Tragischen: streitende, verschwundene, plötzlich beim Urlaub in Griechenland verstorbene Eltern. Nebenbei werden schwierige Fragen beantwortet: Warum bekommen Afrikaner so viele Kinder? Oder ganz schwierige: Warum versagen wir alle in unseren wichtigsten, nächsten Beziehungen?


Nackt unter der Dusche. Inszenierung und Choreografie wirken anspruchsvoller und einfallsreicher als zuletzt bei „Die Reise“, vielleicht weil einige Akteure zum zweiten Mal dabei sind. Eine sehr schöne junge Frau zieht sich nackt aus, was toll aussieht, aber letztlich unmotiviert wirkt. Samt und sonders entzücken die Mitwirkenden mit ihrer Wut, ihrem Schmerz, ihrer Leidenschaft, ihren glücklichen Momenten, die kein Schiller und kein Goethe gedichtet hat, die pur aus den Seelen strömt.

Kann man das nicht wiederholen? Bitte als Nächstes Liebe, Ehe, Sterben usw. Vermissen wir das nicht? Das traute Wirgefühl im Theater? Nein. Kornmüller hat eine Form, die, bevor sie sich richtig entwickelte, schon verschlissen war, durch ein präzise durchdachtes Konzept, das bloß spontan wirkt, es aber nicht ist, großartig belebt. Trotzdem bleibt Kunst die Verwandlung des Alltags, der Wirklichkeit in etwas anderes, was so noch keiner gesehen hat und kennt. Ausgedehnt erlitte das Reality-Theater womöglich das gleiche Schicksal wie sein großer Bruder im TV: Man würde abschalten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2013)

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