„Ex-Jugoslawiens Fehler können für die EU lehrreich sein“

Serbiens Ex-Präsident Tadić
Serbiens Ex-Präsident Tadić(c) EPA
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Serbiens Ex-Präsident Tadić über die Kluft zwischen reichen und armen EU-Staaten und den Kosovo-Kompromiss.

Die Presse: Die EU öffnet nun den Weg für Beitrittsgespräche mit Serbien. Andererseits haben angesichts der Krise viele Bürger und auch Politiker in der EU wenig Lust, weitere Länder aufzunehmen. Ist Serbien noch willkommen?

Boris Tadić: Der damalige Optimismus rund um die große Erweiterung 2004 gehört der Vergangenheit an. Weil die Aufnahme Rumäniens und Bulgariens nach der Meinung vieler EU-Politiker nicht sehr erfolgreich war, sind die Kriterien strenger geworden. Ich bin sehr zufrieden, dass Kroatien der Union beitreten wird, für Serbien ist es aber schwieriger geworden. Die europäischen Politiker müssen jedoch trotz aller Probleme das große Bild im Auge behalten. Natürlich steht die EU vor gewaltigen Herausforderungen: Wie kann man die Wirtschaftskrise bewältigen, wie sieht die Zukunft der gemeinsamen Währung aus, wie kann man die gemeinsamen Strukturen verbessern? Und die europäischen Ländern müssen ihre Probleme lösen. Aber die Erweiterung ist nötig. Nur ein vereintes Europa, das alle seine Hausaufgaben gemacht hat, ist imstande, in einem globalen Markt mit Ländern wie China oder Indien im kommenden Jahrzehnt zu konkurrieren.


Die Presse: Ist es für den Durchschnittsbürger in Serbien überhaupt noch attraktiv, der EU beizutreten?

Tadić: Nachdem wir im Oktober 2000 das Milošević-Regime gestürzt hatten, haben wir den Menschen ein Versprechen gegeben: Wir werden Serbien sehr bald in die EU führen. Das war ein Traum, der damals Hoffnung gegeben hat und sehr wichtig war für die Umgestaltung der Gesellschaft. Wir konnten aber keine schnelleren Reformen durchführen. Dann kamen die Erweiterungsmüdigkeit in den alten EU-Staaten und die Wirtschaftskrise. Das hat dazu geführt, dass die Serben heute nicht mehr so enthusiastisch in Bezug auf die EU sind wie noch vor zehn Jahren. Das ist aber auch ein Zeichen für politische Reife und einen rationalistischen Bezug zur EU. Wir Politiker müssen der Bevölkerung Tag für Tag erklären, welche Vorteile es hat, EU-Mitglied zu sein.


Die Presse: In der EU reißen immer größere Gräben auf. Die Menschen im reicheren Norden schimpfen auf die ärmeren Länder im Süden und werfen ihnen vor, sie mitfinanzieren zu müssen. Die Menschen im Süden schimpfen über den angeblich egoistischen Norden. Das erinnert doch an die Diskussionen im zu Ende gehenden Jugoslawien zwischen Slowenien und Kroatien auf der einen und Republiken wie Serbien oder Mazedonien und Bosnien-Herzegowina auf der anderen Seite.

Tadić: Natürlich können wir Jugoslawien nicht eins zu eins mit der EU vergleichen. Aber das Dilemma zwischen reichem Norden und armem Süden, die Rolle der Zentralbank, die Diskussion über gemeinsame Schulden - das alles hat auch in Ex-Jugoslawien eine wichtige Rolle gespielt. Natürlich geschah das in einem völlig anderen politischen Umfeld: Serbien hat damals gefährliche Fehler gemacht. Serbiens damaliger Machthaber Slobodan Milošević hat nicht das historische Momentum nach dem Fall der Berliner Mauer verstanden.

Aber es gibt viele Dinge, die die europäischen Politiker vom Fall Jugoslawiens lernen können, genauso wie vom Fall der österreichisch-ungarischen Monarchie. Das waren - bei allen Unterschieden - bisherige Versuche, aus vielen Völkern eine gemeinsame Gesellschaft zu schaffen. Die Fehler, die dabei gemacht wurden, können heute sehr lehrreich für europäische Politiker sein. Jeder in Europa muss trotz aller Probleme verstehen, dass wir alle zum selben Kontinent gehören und aus einem gemeinsamen geistigen Erbe schöpfen.


Die Presse: Die Politiker Serbiens und des Kosovo haben sich nun in Brüssel auf einen Kompromiss geeinigt. Was halten Sie davon?

Tadić: Wichtig ist, dass diese Lösung langfristig umgesetzt werden kann. Sonst droht eine erneute Krise, und wir bleiben erst recht bei unseren Beitrittsverhandlungen stecken. Ich bin sehr froh, dass die Parteien, die Serbien derzeit regieren, jetzt nicht dieselbe politische Ideologie verfolgen wie in der Vergangenheit. Und wir in der Opposition tun zum Glück nicht das, was sie taten, als wir in der Regierung waren. Wir unterstützen sie dabei, eine Lösung zu finden, von der die gesamte Region profitiert. Worüber sie bisher nicht gesprochen haben, ist der Status der Kirche und ihres Besitzes im Kosovo. Darüber und über sonstige Eigentumsfragen sowie über die Rückkehr der Vertriebenen muss erst noch verhandelt werden.

Die Presse: Trotz dieses Kompromisses in Brüssel bedarf es einer langfristigen Lösung. Vor einem EU-Beitritt gibt es noch viele offene Fragen. Etwa: Wird Serbien mit oder ohne das Territorium des Kosovo der Union beitreten?

Tadić: Ich habe damals als serbischer Präsident mit Wolfgang Ischinger (Anm.: Kosovo-Vermittler der EU im Jahr 2007) sehr oft über seinen Vorschlag während der Verhandlungen in Österreich gesprochen. Ischingers Zugang, eine Lösung wie bei den beiden deutschen Staaten während des Kalten Krieges zu finden, war gut: Die BRD und DDR erkannten einander nicht als Staaten an, aber sie akzeptierten den jeweils anderen, was in der Praxis funktioniert hat. Ich kann noch immer nicht verstehen, warum der damalige serbische Premier Vojislav Koštunica das nicht akzeptieren wollte. Er glaubte, mit seinem Nein den Konflikt einfrieren zu können, in der Hoffnung, dass Serbien in der Zukunft in einer besseren Lage wäre, die Sache zu lösen. Aber die Lage ist für Serbien natürlich nicht besser geworden. Koštunica und auch die frühere Partei des jetzigen Präsidenten Tomislav Nikolić haben mich damals als Verräter bezeichnet. Das heutige Ziel für den Kosovo ist aber weniger ambitioniert, als das, was damals möglich gewesen wäre oder was ich in den vergangenen Jahren angestrebt habe.

Die Presse: Serbien leidet massiv unter der Wirtschaftskrise. Was kann dagegen getan werden?

Tadić: Für mich ist das sehr schmerzhaft: Wir hatten in Serbien Wahlen, bevor die Krise begann. Dann im Juni 2008 kam der Kollaps der Lehman-Brothers. Und alles, was wir vor der Wahl versprochen hatten, war nun schwer zu halten. Von der höchsten Wachstumsrate in unserer jüngsten Geschichte fielen wir in eine Rezession zurück. Die zuvor mühsam auf 14 Prozent gesenkte Arbeitslosenrate erreichte wieder 25 Prozent. Wir schlitterten in eine Situation, in der unserer Regierung allen guten Maßnahmen und Anstrengungen zum Trotz nicht mehr gelingen konnte, eine wirtschaftliche Erholung herbeizuführen. Aber mit der neuen Regierung sehe ich auch keinen Fortschritt. Das Hauptproblem meines Landes ist nicht Kosovo. Das Hauptproblem ist nicht, wir noch nicht in der EU sind. Das Hauptproblem ist die Wirtschaft.

Die Presse: Es hat aber auch große interne Probleme in Ihrer Partei gegeben.

Tadić: Meine Partei musste mit verlorenen Wahlen fertig werden. In ganz Europa zeigt sich, dass Menschen mit den traditionellen Parteien nicht zufrieden sind. Aber natürlich werden sie auch mit den neuen Parteien nicht zufrieden sein. Niemand schafft es wirklich, die wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Ich bin sicher, dass sich meine Partei aus dem aktuellen Tief erholen wird und schon bei den nächsten Wahlen ein besseres Ergebnis einfahren wird als bei den vorangegangenen Wahlen.

Die Presse: Es gab in der Demokratischen Partei aber massive Konflikte. Der ehemalige Außenminister Vuk Jeremic wurde hinausgeworfen.

Tadić: Das war eine sehr kontroversielle Entscheidung der neuen Führung. Ich hatte meine eigene Ansicht dazu, aber ich wollte mich nicht in die Entscheidungen der neuen Führung einmischen. Das wäre nicht sehr hilfreich gewesen. Nicht nur der ehemalige Außenminister Jeremic sondern auch der ehemalige stellvertretende Vorsitzende Dusan Petrovic wurde ausgeschlossen - nur deshalb, weil sie das Gesetz in Anspruch nehmen wollten, das wir im Parlament verabschiedet hatten, um einen Termin für EU-Beitrittsverhandlungen zu erhalten: Dass jeder Abgeordnete persönlich über sein Mandates verfügen kann und nicht die Partei.

Die Presse: Wie wird Ihre weitere Rolle in der Partei aussehen?

Tadić: Ich bin Ehrenvorsitzender der Demokratischen Partei. Und ich bin immer bereit, zu helfen. Aber ich will der neuen Führung keine Hindernisse in den Weg legen. Sie muss die Fähigkeit beweisen, die Demokratische Partei zu leiten.

Die Presse: Was denken Sie über die Rolle der serbischen Diaspora in Österreich?

Tadić: Österreich hat eine der größten serbischen Gemeinden in der Welt. 180.000 Serben leben in Wien und etwa 300.000 in Österreich. Ich denke, sie müssen das Land respektieren, in dem sie leben. Die Serben in Österreich arbeiten hart. Sie stellen zugleich eine Brücke dar. Und ich hoffe, dass sie dazu beitragen, die Beziehungen beider Länder zu intensivieren.

Zur Person

Boris Tadić gehörte in den 1990er-Jahren zum Kreis der Oppositionellen rund um Zoran Djindjić, die gegen das Regime des serbischen Machthabers Slobodan Milošević kämpften. Milošević wurde im Oktober 2000 gestürzt, Djindjić wurde Premier. 2004, ein Jahr nach Djindjićs Ermordung, wurde Tadić Chef der Demokratischen Partei DS und Präsident Serbiens. Als erster serbischer Präsident seit Ende des Krieges 1995 besuchte er Bosnien und Herzegowina und entschuldigte sich für das Massaker von Srebrenica. 2012 verlor er die Wahl gegen den – mittlerweile gemäßigteren – Nationalisten Tomislav Nikolić. Nach internen Machtkämpfen trat Tadić von der Führung der DS zurück und ist jetzt ihr Ehrenvorsitzender.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.04.2013)

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