Reformverweigerer im Schilf

Sommerbauer
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Willkommen in Wylkowo im ukrainischen Donaudelta! Gottesfürchtige Babuschkas, die ihren Glauben trotz Zar und Kommunisten nicht abgelegt haben. Ein junger Mann, der es vor lauter Heimweh nach seinem Dorf kaum aushält.

Wenn sie in die Kirche gehen, tragen die Frauen Kopftücher und bodenlange Röcke. Und die Männer tragen lange Bärte, natürlich nicht nur in der Kirche.

In der Kirche des Heiligen Nikolaus in Wylkowo gibt es separate Eingänge für Männer und Frauen. Männer sollen durch den Haupteingang eintreten, Frauen durch die Seitentür. Doch die Geschlechter mischen sich, als die Gläubigen in die Kirche strömen. Das ist aber auch schon das einzige Gesetz der Ahnen, das hier nicht befolgt wird.

In der schmucklosen Kirche im ukrainischen Donaudelta versammeln sich am Sonntagvormittag die Nachkommen der Altgläubigen. Ihre Vorfahren sind vor 250 Jahren aus dem Zarenreich geflohen. Mitte des 17.Jahrhunderts erklärte der damalige Patriarch Nikon, der gebräuchliche orthodoxe Ritus weiche vom griechischen Urtext ab, sei falsch übersetzt worden. Nikon wollte Vereinheitlichung, Reformen. Es ging um die Schreibweise des Namen Jesu, die Art des Kreuzzeichens und einige liturgische Spitzfindigkeiten. Der russische Zar Alexej I. unterstützte Nikon in seinem Ansinnen. Doch Teile der Kirche wehrten sich gegen Nikons Ideen. Sie sahen „den wahren Glauben“ in Gefahr.

Abspalter oder Altritualisten? Für ihre Auflehnung gegen die Führung der orthodoxen Kirche und den weltlichen Herrscher sollten viele mit dem Leben bezahlen. Zehntausende wurden hingerichtet, andere flohen bis an die Grenzen des Zarenreichs und weiter. Sie kamen in hölzernen Booten über das Schwarze Meer. Im Dickicht des Donaudeltas fanden sie Zuflucht. Aus der Sumpflandschaft gewannen sie Land, durchkreuzt von Kanälen. Zwischen dem Schilf gründeten sie auf Sandbänken neue Siedlungen und bauten ihre Kirchen. Bis heute leben sie in Wylkowo, am Flusskilometer 0, dort, wo die Donau ins Schwarze Meer mündet.

„Razkolniki“ nennt sie die orthodoxe Kirche, Abspalter. Aus der Sicht der Altgläubigen stimmt das nicht, sehen sie sich doch als Bewahrer. Sie nennen sich selbst „Staroobrjadci“, Altritualisten. Erst 1905 wurde in Russland ihr Glaube legal.

Die Gotteshäuser der Altgläubigen erkennt man an ihrem dreifach gekreuzten Kreuz. Die türkisfarbene Kirche in Wylkowo zieren in ihrem Inneren keine Fresken. Die Ikonostase und ein paar Ikonen sind der einzige Schmuck an den kahlen Wänden. Sie sehen anders aus als üblich: Großflächige Ikonen sind es, gemalt auf Lindenholz, mit Rahmen versehen, sodass sie wie Bilder wirken. Lipowaner nennt man die Altgläubigen in Wylkowo, und der Name soll sich von Lipa, dem Lindenholz, herleiten. Auf ihm wurden die gottesfürchtigen Bilder verewigt.

Der Platz der Männer in der Kirche ist vor der Ikonostase. Hinter der Ikonenwand vollzieht Vater Sergej den Ritus. Der junge Pope hat zunächst das orthodoxe Priesterseminar in Odessa besucht und sich später den Altgläubigen angeschlossen. Die Frauen, wenn auch in der Mehrheit, müssen im hinteren Teil der Kirche Platz finden.

Das Kreuzzeichen machen die Gläubigen hier mit zwei Fingern, nur so sei es richtig, sagen sie. Beim Beten verneigen sie sich mit dem Oberkörper bis zum Boden, aber sie berühren ihn nicht mit der Hand, das gehöre sich nicht, sagen sie. Die Finger der Betenden tippen auf ein kleines Kissen, das auf dem Boden vor ihnen liegt.

Früher heirateten die Altgläubigen nur untereinander, Eheschließung mit anderen war verpönt. Auch aus Gläsern anderer Christen tranken sie nicht. „Es ist eine strenge Religion”, sagt Oma Pascha. 82 Jahre ist sie alt, ihr Haar versteckt sie unter einem blauen Kopftuch, ihren Körper unter Steppjacke und Blumenrock. Ganz so streng ist die Gemeinschaft heute nicht mehr. Und in Wylkowo sieht man an Feiertagen gar Mädchen in Miniröcken. Doch ist das gut so? „Es kommen immer weniger Junge“, sagt Oma Pascha und schaut in die Runde: gebückte Gestalten, alte Knochen. Die Altgläubigen haben in ihrer diskreten Abgeschiedenheit das Zarenreich und den Kommunismus überlebt. Sie werden doch nicht an der neuen Zeit zugrunde gehen?


Nur Bilder von Fischern. Auf den Bildern von Aleksandr Scharapow ist das Wylkowo der Vergangenheit noch lebendig. „Ich wollte immer das zeichnen, was in meiner Seele ist“, sagt er. „Ich könnte keine Raumschiffe malen.“ Scharapow malt die schmalen schwarzen Holzboote, Fischernetze und natürlich die Männer mit den langen Bärten: die Welt Wylkowos. Im Gebäude der früheren Fischkolchose hat Scharapow ein Heimatkundemuseum samt Gemäldegalerie eingerichtet. Wo früher die Direktoren saßen und die Einnahmen aus dem Kaviar-Export berechneten, sind nun Metallkübel, lipowanische Kreuze und Revolver ausgestellt. „Wylkowo darf seine Traditionen nicht vergessen“, sagt der stämmige Mann mit der Mütze auf dem Kopf. Dann geht er ins Atelier und malt an seinem Bild weiter. Es zeigt ein Fischerboot.

Im Hafen von Wylkowo erinnert eine Metallstatue symbolisch an den ersten Ankömmling. Eine hagere Gestalt mit Bart, natürlich, dazu das obligatorische Boot. Hinter dem Bootsmann fließt träge der Kilia-Arm des Donaudeltas, der nördlichste von drei breiten Kanälen. Im Dunst auf der anderen Uferseite liegt Rumänien. Auch dort, etwa im Ort Periprava schräg gegenüber, leben Lipowaner. Viele hier haben Verwandtschaft drüben. Besuchen können sie diese heute nicht mehr so leicht. Seit Rumänien 2007 der EU beigetreten und der Kilia-Kanal zu einer Außengrenze der Union geworden ist, haben sich Besuche mit dem Boot aufgehört. Heute wird die Grenze von Rumänien streng kontrolliert, einen Grenzübergang gibt es in der Nähe nicht. Um die Verwandten zu sehen, müssen die Menschen mehrere Stunden Fahrt über Land auf sich nehmen. Seitdem sind Besuche seltener geworden.

Doch es gab Zeiten, da waren die Gemeinden an den gegenüberliegenden Ufern einander näher. Wylkowo kann man in mehreren Sprachversionen schreiben, denn die Region wechselte häufig Besitzer. Lange Zeit herrschten hier die Osmanen. Im Jahr 1790 nahm der russische Feldherr Aleksandr Suworow das Gebiet ein und stieß in der nahen Stadt Izmail, bis dahin wichtige osmanische Festung, den berühmten Schrei aus: „Izmail vzjat!“ – „Izmail ist eingenommen!“ Die Russen eroberten die Donau – und damit den Zugang zum Schwarzen Meer. Im 20. Jahrhundert wanderte die Gegend dreimal zu Rumänien, ab 1944 zur Sowjetunion. Die türkisfarbene Kirche wurde geschlossen, später brannte sie ab, in den Neunzigern wurde sie restauriert.

Wylkowo wird heute das „Venedig der Ukraine“ genannt, wegen seiner vielen Kanäle, die als Wasserstraßen durch den Ort führen. Früher ruderten die Bewohner tatsächlich die meiste Zeit mit dem Boot herum, die Menschen lebten vom Fischfang. Heute sind viele Kanäle verwachsen, die Fischfabrik geschlossen, Wylkowo im Dämmerschlaf.


Heimweh nach Wylkowo. Im Restaurant „Venezia“ nippt Zhenja an seinem Bier. Zhenja heißt eigentlich Jewgenij Sokolow und ist 18 Jahre alt. In sein schmales Gesicht fallen Stirnfransen, seine Augen liegen tief. Zhenja stammt aus einer Altgläubigenfamilie, doch Bart trägt er keinen und die Kirche besucht er nur zweimal im Jahr: zu Ostern und zu Weihnachten. „In Odessa glauben sie, wir sind zurückgeblieben“, sagt Zhenja. Keine Straßen, kein Strom, die Wilden aus dem Delta. So in etwa.

Die meiste Zeit des Jahres ist Zhenja todunglücklich. Da lebt er als Student in eben jenem Odessa und studiert Elektrotechnik. Zhenja vermisst Wylkowo so sehr, dass er seinem Ort eine Homepage gewidmet hat, die dessen Sehenswürdigkeiten liebevoll aufzählt.

Einmal habe er einen Lehrer mit 200 Griwen, 20 Euro, bestochen, um noch eine Woche länger hier bleiben zu können, erzählt er grinsend. Doch Zhenja kann nicht in Wylkowo leben. Was sollte er tun? Fischen? Touristen zur Donaumündung schippern? Er schüttelt den Kopf. Zhenja ist ein Kind Wylkowos: Wie das Dorf im Delta hat er seine Zukunft noch nicht gefunden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2013)

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