Zuflucht in Österreich

Die IKG weiß von 20 ungarischen Juden, die nach Wien gekommen sind. Es dürften aber mehr sein.

„Anfragen für den Fall, dass sich die politische Lage in Ungarn weiter verschlechtert.“ So bezeichnet Raimund Fastenbauer die schriftlichen und telefonischen Interessenbekundungen, die die Israelitische Kultusgemeinde Wien (IKG) seit einigen Monaten von besorgten ungarischen Juden erhält. Von einer Auswanderungswelle möchte der IKG-Generalsekretär nicht sprechen. Die Gemeinde werde jedoch „wöchentlich von drei bis vier Einzelpersonen kontaktiert“. Es seien dies mehrheitlich „politisch motivierte Anfragen“ – soll heißen: Juden aus Ungarn überlegen eine Umsiedlung nach Österreich aufgrund des wachsenden Antisemitismus im Nachbarland. Mit Betonung auf „überlegen“.

Wie viele Juden aus Ungarn tatsächlich schon nach Wien gekommen sind, ist indes schwer zu sagen. Der Wiener Gemeinderabbiner Schlomo Hofmeister weiß von etwa 15 bis 20 „offiziellen Fällen“ – also ungarischen Staatsbürgern, die mit der IKG in Kontakt getreten sind. Doch Hofmeister ist sicher, dass die reale Zahl der Zugezogenen „um einiges höher“ sei. Der Grund: Viele ungarische Juden sind in ihrem Heimatland nicht in der jüdischen Gemeinde registriert, eine Folge der kommunistischen Zeit. Sie sind also nicht (oder nicht besonders) religiös und besuchen auch in Österreich keine Gottesdienste oder Einrichtungen der Kultusgemeinde.

Keine Integrationsprogramme. IKG-Vertreter sagen es offiziell zwar nicht, aber: Ein zahlenmäßig großer Ansturm aus Ungarn würde die Kultusgemeinde vor finanzielle Schwierigkeiten stellen. In Wien gibt es keine breit angelegten Programme für sprachliche und berufliche Integration. Die Kultusgemeinde kann sozial Bedürftigen nur beschränkt helfen; auch Jobs innerhalb der Gemeindeinfrastruktur sind nur begrenzt verfügbar.

Marta S. Halpert, die selbst in Budapest geborene Chefredakteurin des Magazins „Jüdisches Echo“, sieht Wien daher auch nicht als Destination Nummer eins. Halpert meint, dass ungarische Auswanderungswillige noch immer eher Israel wählen würden, da die Einwanderung – „Alijah“ genannt – dort staatlich gefördert sei.

Laut Julia Kaldori, Chefredakteurin des von der IKG herausgegebenen jüdischen Stadtmagazins „Wina“, gebe es auch einige Juden, die „zwischen Wien und Budapest pendeln“ – und auf diese Weise versuchten, sich allmählich hier beruflich zu etablieren. Kaldori ist selbst im Jahr 1986 aus dem kommunistischen Nachbarland nach Österreich gekommen. Heute ist Ungarn eine Demokratie – formal zumindest. Doch Ungarns Juden, sagt Kaldori, „haben tatsächlich Angst“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.05.2013)

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