Das Leben der anderen

Mit Respekt: Josef Kleindiensts Story über einen Sonderling.

Erwin war immer anders als die anderen. Er war seit je kleiner als die Gleichaltrigen, langsamer, schwächer, auf sich selbst bezogen, hatte auch niemanden, der sich um ihn kümmerte und der ihn leiten konnte. Mit Mühe absolvierte er die Pflichtschule, wollte eine Mechanikerlehre beginnen, bekam aber keine Stelle, arbeitete schließlich in einem Lagerhaus, schleppte dort Säcke und anderes Zeugs von einem Ende der Halle ans andere.

Als seine mit ihrem Mann im Elternhaus wohnende Schwester ihm mitteilt, „er sei kein Kind mehr und es sei längst schon an der Zeit, dass er lerne selbstständig zu sein“, zieht er vom kleinen Kärntner Dorf in die Stadt, in seine erste eigene Wohnung in einem trostlosen Wohnsilo. Dort läuft meistens der Fernseher, seine zweitliebste Verbindung mit der Außenwelt, neben dem Herumschlendern im nahen Einkaufszentrum. Kurz: Sein „Leben ist, als würde man ihn mit ihm schlagen“ (wie das treffend gewählte Motto von Fernando Pessoa lautet, das der Erzählung voransteht).

Zu seinem Geburtstag schenkt ihm sein Vater (die Mutter ist tot) etwas Besonderes: eine sogenannte Österreich-Card, mit der der Inhaber ein Jahr lang unbeschränkt auf dem Schienennetz der ÖBB unterwegs sein kann. Der Vater will damit den Sohn bei seinen Reisen zu Bewerbungsgesprächen (die er nicht mehr wahrnimmt) unterstützen.

Der weiß zunächst nichts mit diesem merkwürdigen Geschenk anzufangen. Doch besteigt er dann tatsächlich den erstbesten Zug und fährt einmal irrtümlich nach Slowenien, später quer durchs Land, etwa nach Innsbruck (um dort die berühmte Skiflugschanze zu besichtigen, hat doch der zierlich gebaute Erwin früh von einer Karriere als Skispringer geträumt), nach Bad Gastein (wo er seine Lieblingstante besucht), nach Salzburg oder zum Wiener Westbahnhof.

Tagelang am Bahnsteig warten

Da lernt er denn auch einige Leute kennen, Kellner, Alkoholiker, Obdachlose, schließlich auch die nette Polin Agnieszka, in die er sich verliebt. Sie verbringt einige Tage in Wien, um ihren Verlobten abzuholen. Erwin wartet tagelang am Bahnsteig des Zuges nach Warschau, und tatsächlich sieht er sie wieder, jedoch anders als erhofft. Auch die anderen Frauen, die es scheinbar gut mit ihm meinen, tun ihm nicht wirklich gut. Vor allem Angelika, die ihm sein letztes Geld entlockt, um es im Casino bei Spielautomaten zu verlieren. Sie kriegt den Ausbruch ab, der sich so lange im allzu guten Menschen Erwin anstaute, der sich fatalistisch in alles fügt und alles mit sich machen lässt.

Josef Kleindienst erzählt diese an sich nicht außergewöhnliche Geschichte, diese Außenseiterstory konzis und ruhig, in kurzen, beinahe stakkatohaften Sätzen. Solcherart folgt man einigermaßen gespannt den merkwürdigen Begebenheiten und den alltäglichen, mitunter sonderbaren Beobachtungen Erwins.
Für die Erzählung einnehmend ist die Haltung des Erzählers, der stets auf der Seite dieses wahrlich unbedarften jungen Mannes bleibt, ihn auch in den dümmsten und widersinnigsten Situationen nicht hängen lässt. Nie macht er sich über seinen Protagonisten lustig (wie leicht das wäre!), sondern behandelt ihn, wie es sich gehört, mit Respekt und Empathie.

So lernt man auch einen empfindsamen und auf seine Weise nachdenklichen, ein bisschen aus der Zeit gefallenen Menschen (das ist man heutzutage ja schon, wenn man beispielsweise keinen Computer hat, wie Erwin) kennen, der lediglich sein Leben leben will, aber eben nicht nach der Façon der anderen.  ■

TIPP

Josef Kleindienst
Freifahrt
Erzählung. 140 S., brosch., € 16 (Sonderzahl Verlag, Wien)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.05.2013)

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