Ein begrünter Catwalk

Die High Line ist der neueste Trend aus New York: Eine frühere Hochbahn wurde zum Touristenmagneten.

In Scharen schreiten Touristen und Flaneure über die stillgelegte Hochbahn. An den Wochenenden wälzen sie sich von Nord nach Süd und umgekehrt, und der Gegenverkehr an der New Yorker High Line ist zuweilen so dicht, dass Staus den Müßiggang stoppen. Bänke und Holzliegen sind rasch besetzt, die Tribüne mit Ausblick auf die 10th Avenue lädt zur beschaulichen Betrachtung des Großstadttrubels ein, und Voyeure ergötzen sich nächtens am Treiben hinter den Fenstern des fashionablen Standardhotels, wo sich im Parterre ein Biergarten nach bayerischer Art mit hohem Hipness-Faktor etabliert hat.

Professionelle und private Fotoshootings sind en vogue im Meatpacking District – ein Laufsteg der Eitelkeiten, ein begrünter Catwalk entlang des Hudson River: Osteuropäische Models posieren, Französinnen stolzieren und Japanerinnen grimassieren. Das ehemalige Schlachthausviertel, einst Geheimtreff von Junkies, Drag Queens und der Homosexuellenszene, ist längst zum Fashion-Viertel mit Boutiquen, Galerien, In-Lokalen wie dem „Pastis“ und trendigen Hotels samt Dachpool à la „Gansevoort“ mutiert.

Selbst zu den geschäftigsten Zeiten der High Line kann die Frequenz nicht größer gewesen sein als heute. Im Herbst 1980 war Schluss mit den Güterzügen über der 10th Avenue, drei Waggons mit gefrorenen Truthähnen rollten als letzter Frachtzug zu den Schlachthäusern im Stadtteil Chelsea. Auch die Schweinebauchhälften und Rinderrippen wichen später Edelrestaurants und Nobelboutiquen. Längere Zeit blieb es ruhig auf den Gleisen, aus denen das Unkraut wucherte – ein Abenteuer- und Spielplatz für Kinder und Jugendliche in „Hell's Kitchen“ und Chelsea, wie sich der Schauspieler Ethan Hawke schwelgerisch erinnert: „Es war ein magischer Ort.“

Doch die ungenutzte Fläche in einem Randviertel Manhattans, inmitten von Lofts und Lagerhäusern, weckte die Begehrlichkeiten der Immobilienbranche. Ein Antrag zum Abriss der High Line war bereits von der Stadtverwaltung abgesegnet, als Gegner auf den Plan traten. Der Journalist Joshua David und der Künstler Robert Hammond gründeten 1999 die Initiative „Friends of the High Line“, eine Graswurzel-Bewegung, die tatsächlich bald aufkeimte. Prominente wie die Schauspieler Edward Norton, Kevin Bacon und die Designerin Diane von Fürstenberg liehen der Kampagne Stimme und Gesicht.


Paris stand Modell. Die „Friends“ hatten ein Vorbild vor Augen: Die „Promenade plantée“ in Paris stand Modell für New York. 1993 fertiggestellt, blühte die frühere Stadtbahnstrecke von der Bastille zum Bois de Vincennes auf. Über dem Grau der Avenue Daumesnil erhebt sich im Frühjahr üppiges Grün: eine Oase im Großstadtdschungel, von dem die Pariser allerdings kein großes Aufheben machen. Ganz im Gegensatz zu New York, das die High Line exzessiv vermarktet – ein Touristenmagnet erster Klasse und mittlerweile beinahe so ein Wahrzeichen der Stadt wie die Freiheitsstatue (auch dies ein Geschenk aus Paris). Bürgermeister Michael Bloomberg stilisierte die High Line gar zur modernen New Yorker Ikone.

Es dauerte freilich bis 2006, bis die Idee Gestalt annahm. Bloomberg trieb das Projekt voran, der britische Landschaftsarchitekt James Corner zauberte Sträucher, Gebüsch und Birken herbei. Er schuf eine luftig-leichte Atmosphäre, gewürzt mit einem intensiven Aroma. Vor vier Jahren eröffnete schließlich der erste Abschnitt, vor zwei Jahren der zweite, die sich insgesamt derzeit auf 1,6 Kilometer (eine Meile) erstrecken: ein rares Gratis-Vergnügen, das jährlich vier Millionen Besucher anzieht. Die Häuserschluchten entlang der High Line säumen Bauten der Stararchitekten Jean Nouvel, Frank Gehry oder Renzo Piano, und inzwischen geht in dem einst im Abseits gelegenen Viertel die Angst vor der „Gentrifizierung“ um: der für Manhattan charakteristischen Umwandlung in ein teures Trendviertel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.05.2013)

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