Russland vertreibt renommierten Ökonomen

Sergej Guriev
Sergej Guriev Moscow Institute of Physics and Technology
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Die Flucht des brillanten Ökonomen Sergej Guriev nach Frankreich zeugt von einer neuen Qualität der politischen Repression in Russland. Und sie beendet eine Ära liberaler Anflüge.

Moskau. Russland hat viele Ökonomen. Aber nur einen Sergej Guriev. Mit seinen gerade einmal 42 Jahren kann er auf ein Lebenswerk verweisen, das andere bei Pensionsantritt nicht erreicht haben. Unter anderem hat er mit der Moskauer New Economic School (NES) eine Bildungseinrichtung etabliert, die heute zu den führenden der Welt gehört und 2009 auch US-Präsident Barack Obama zu Besuch hatte. Und hat etwa mit seinem Buch über die „Mythen der Ökonomie“ der sowjetverseuchten Bevölkerung einen entlarvenden Spiegel vorgehalten. Nicht zufällig hat auch der Staat Gurievs Dienste in Anspruch genommen und auf seine Expertise bei diversen Regierungsprogrammen nicht verzichtet. Der ehemalige Kreml-Chef und jetzige Premier Dmitri Medwedjew hat Guriev 2009 daher auch in die Top hundert seiner Kaderreserve aufgenommen.

Nun ist Guriev, den auch „Die Presse“ oftmals als Kommentator in Anspruch nahm, aus Russland geflüchtet. Wie dieser Tage bekannt wurde, hat er bereits Ende April das Land Richtung Frankreich verlassen. Offiziell zwar im Urlaub, ist er in der Zwischenzeit nicht nur als Rektor der NES zurückgetreten, sondern hat auch seine diversen Aufsichtsratsposten – unter anderem in der landesweit größten Bank Sberbank – zur Verfügung gestellt. „Ich werde nicht zurückkehren, solange nur die geringste Chance besteht, die Freiheit zu verlieren. Ich habe nichts Schlechtes getan und will nicht in Angst leben“, sagte er zur „New York Times“, die ihn in Paris erreichte: „Einige Leute haben mir gesagt, dass die Risken akzeptabel sind, andere rieten von einer Rückkehr ab, jedenfalls konnte mir niemand irgendwelche Garantien geben.“

Gefährliche Sympathie für Chodorkowski

Die Gefahr, unter Umständen sogar im Gefängnis zu landen, witterte Guriev, als er in den vergangenen Monaten plötzlich mehrmals von den Ermittlern zu Verhören vorgeladen wurde – und zwar in der Causa des Ex-Ölmagnaten Michail Chodorkowski, der sich 2003 den Zorn von Kreml-Chef Wladimir Putin zugezogen hatte und seither in Lagerhaft ist. Der Konnex zu Guriev: Auf Medwedjews Vorschlag hin hat der Menschenrechtsrat des Kreml im Jahr 2011 sechs Personen beauftragt, eine Expertise zur Causa Chodorkowski abzugeben. Die Sechsergruppe, zu der auch Guriev gehörte, kam zum Ergebnis, dass Chodorkowski grundlos verfolgt werde.

Der Befund birgt Sprengstoff, schließlich ist die Inhaftierung Chodorkowskis nicht nur die zweifelhafteste Causa in Putins Langzeitära; die 2014 endende Haft soll außerdem durch einen neuen Prozess, der offensichtlich in Vorbereitung ist, verlängert werden.

Vorkämpfer gegen Korruption

Gurievs Flucht zeugt von einer neuen Qualität der Repression. Diese richtet sich seit Putins vorjähriger Rückkehr in den Kreml gegen liberale Inseln, die unter Medwedjew Auftrieb erhalten hatten, und hat nun sogar die Wissenschafts- und Expertenebene erreicht. In Ungnade fällt, wer auch nur den leisesten Funken einer Sympathie mit der Opposition erkennen lässt.

In Russland hört diese heute auf den Namen des jungen und charismatischen Anwalts Alexej Navalny, der als Shareholder-Aktivist Korruption in Staatsbetrieben aufgedeckt hat und nun offenbar selbst mit einem Gerichtsprozess kaltgestellt werden soll. Guriev zum Schaden wurde daher auch, dass er Navalny und dessen Stiftung zur Korruptionsbekämpfung unterstützt hat. Als Ökonom weiß Guriev nur zu genau, dass die flächendeckende Korruption der Wirtschaft die Luft zum Atmen nimmt und jeden Einzelnen teuer zu stehen kommt. Auf dem Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International nimmt Russland den unrühmlichen Platz 133 von 174 ein.

Vor zwei Jahren griff Guriev daher auf internationale Studien zur Wechselwirkung zwischen Korruption und BIP-Wachstum zurück und kam zum Schluss: Einige Aktivisten à la Navalny könnten bewirken, dass ein Durchschnittsrusse 2020 nicht den Lebensstandard eines Slowaken, sondern den eines Italieners erreicht hat. Und auf einer Konferenz gab er kürzlich den Machthabern einen Rat, wie sie ihre Macht am sichersten bewahren könnten. Das Einzige nämlich, was die heterogenen Teilnehmer an Straßenprotesten eine, sei der Zorn über die Korruption. „Beseitigt die Korruption, und die Opposition ist weg!“ Die Realität war schneller – nun ist Guriev weg.

Auf einen Blick

Sergej Guriev (42) ist der bekannteste Ökonom Russlands – und seit April auf der Flucht. Der frühere Kreml-Berater hat sich den Unmut der Führung zugezogen, als er Sympathien für die Kreml-Kritiker Michail Chodorkowski und Alexej Navalny erkennen ließ. „Ich werde nicht zurückkehren, solange nur die geringste Chance besteht, die Freiheit zu verlieren. Ich habe nichts Schlechtes getan und will nicht in Angst leben“, sagt er aus Frankreich. Gurievs Flucht zeugt von einer neuen Qualität der Repression, die mit Putins Rückkehr in den Kreml begonnen hat.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2013)


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