Die Abwehrschlacht der Lebensmittelkonzerne

Customers walk into McDonald's outlet in China's Shenzhen
Customers walk into McDonald's outlet in China's ShenzhenREUTERS
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Big Food fürchtet, für die grassierende Fettleibigkeit staatlich in die Mangel genommen zu werden. Eine PR-Kampagne mit irreführenden Zahlen soll den Druck von der Branche nehmen.

Washington. 1,5 Billionen Kilokalorien weniger binnen fünf Jahren: Hank Cardello war sichtbar stolz, als er dieses Ergebnis vergangenen Donnerstag in Washington vorstellte. Coca-Cola, Pepsi-Cola, Hershey, Mars, Kraft, Kellogg und ein Dutzend weiterer marktbeherrschender US-Lebensmittelkonzerne haben ihr Ziel, die Gesamtmenge an Kilokalorien in ihren Produkten zu senken, drei Jahre früher als versprochen erreicht. „Das ist einfach eine gute Geschäftsstrategie“, frohlockte Cardello, der früher Marketingchef von Coca-Cola war und die Marken des Bierkonzerns Anheuser-Busch gemanagt hat, vor Industrielobbyisten, Lebensmittelforschern und Journalisten.

Im Jahr 2010 haben sich die 16größten Lebensmittelverarbeiter freiwillig verpflichtet, durch die Einführung „leichterer“ Produkte, kleinerer Verpackungen sowie mehr Gemüse und Obst in ihren Fertiggerichten im Jahr 2015 mindestens 1,5 Billionen Kilokalorien weniger für den amerikanischen Markt zu produzieren als im Basisjahr 2007. Cardello pries diese Selbstverpflichtung der Industrie als goldrichtig an. „Es führt die Debatte weg vom Moralischen hin zum Pragmatischen.“

Jeder Dritte ist krankhaft fett

Pragmatisch sind die Beweggründe der Hersteller von Zuckerlimonaden, Kartoffelchips, Fertigsuppen und Schokoriegeln zweifellos. Denn Big Food stehe heute vor demselben Problem wie Big Tobacco in den 1990er-Jahren, sagte Michael Moss im Gespräch mit der „Presse“. „Die machen das, um das öffentliche Vertrauen nicht zu verlieren. Die Tabakindustrie tat damals dasselbe, als sie nach langem Widerstand staatliche Regulierung akzeptierte.“

Moss, ein mit dem Pulitzer-Preis gekrönter Reporter der „New York Times“, hat sich in den vergangenen vier Jahren ausschließlich mit der Lebensmittelindustrie beschäftigt. Das Ergebnis dieser Recherchen heißt „Salt, Sugar, Fat: How the Food Giants hooked us“ und ist seit Wochen in den amerikanischen Bestsellerlisten. Seine Quintessenz: Die Lebensmittelverarbeiter machen uns mit wissenschaftlich erforschten Kombinationen von Salz, Zucker und Fett abhängig von ihren Produkten. Das macht sie zu den Hauptschuldigen für die Epidemie der Fettleibigkeit, die nach den Vereinigten Staaten so gut wie jeden Industriestaat schleichend erfasst.

Ein paar Zahlen aus dem Fundus der Centers for Disease Control and Prevention (CDC), der staatlichen Gesundheitsbehörde: 35,7 Prozent aller Amerikaner sind krankhaft fettleibig, 17 Prozent aller Kinder bis 19 Jahren und fast jeder zweite Schwarze in den USA. Entgegen häufiger Behauptungen verfetten nicht nur die Armen, schlecht Gebildeten, sondern alle sozialen Schichten. Einzig höher gebildete Frauen ernähren sich statistisch signifikant gesünder als weniger gebildete.

Hohe Kosten für Krankenkassen

All das hat schlimme Folgen für die Gesundheit dieser Menschen. 24 Millionen Amerikaner haben Typ-2-Diabetes, also jene Form der Zuckerkrankheit, die durch ungesundes Essen verursacht wird. 79 Millionen weitere Amerikaner stehen dank ihrer zu fetten, zu süßen, zu salzigen Ernährung davor, ebenfalls zuckerkrank zu werden. An der Gicht, einst als Krankheit bloß reicher Leute bekannt, leiden heute in Amerika acht Millionen Menschen.

Das ist für Amerikas Unternehmen sehr, sehr teuer. Denn die Krankenversicherung wird hier meist von den Arbeitgebern bezahlt. Im Jahr 2008 betrugen die Kosten für die Behandlung von Krankheiten, die auf Fettleibigkeit zurückzuführen waren, 147 Milliarden Dollar (113 Milliarden Euro). Jeder klinisch fette Patient kostet durchschnittlich 1429 Dollar mehr als ein Patient mit normalem Gewicht, haben die CDC errechnet.

Die Lebensmittelverarbeiter treibt noch eine andere Sorge um: Was, wenn der Druck von Verbraucherschützern und Medizinern ähnlich wie im Fall der Tabakindustrie zu Sammelklagen und gesetzlichen Regulierungen führt? „Wir sind in dieser Frage an einem Wendepunkt“, sagte Michael Moss. „Immer mehr Leute legen immer mehr Wert darauf, was sie in ihre Körper hineintun. Aber sie müssen Druck auf die Politiker machen. Denn die Lebensmittelkonzerne sind viel mächtiger als die Aufsichtsbehörden, die sie eigentlich regulieren sollten.“

Womit die freiwillige Kaloriensenkung der Konzerne verständlich wird. Die Unternehmen wollen ihr Verantwortungsbewusstsein nach außen sichtbar machen, um staatlichen Vorschriften vorzubeugen.

Dabei hantieren sie mit einer gehörigen Portion Schall und Rauch. Denn erstens haben sie das Basisjahr 2007 bewusst gewählt. In der Rezession ab 2008 sanken nämlich inflationsbereinigt die Absätze der Lebensmittelindustrie in den Supermärkten. Der hohe Basiswert von 2007 habe es möglich gemacht, das Ziel von 1,5 Billionen weniger Kilokalorien ohne große Mühe zu erreichen, gab die Ernährungsforscherin Margo Wootan vom Center for Science in the Public Interest gegenüber der „Presse“ zu bedenken.

14 Kalorien am Tag eingespart

Ein Ziel, das zweitens ziemlich bescheiden ist, wenn man die Größenverhältnisse berücksichtigt (was die Lebensmittelkonzerne nicht tun). Pro Kopf und Tag produziert Big Food in Amerika rund 3900 Kilokalorien. Die 1,5 Billionen Kilokalorien entsprechen rund 14 Kalorien pro Tag und Person. Das ist ungefähr so viel wie ein Bissen von einer Tiefkühlpizza. „In der Substanz ist das nicht viel“, gab Michael Moss zu bedenken. „Ich habe da ohnehin ein paar andere Fragen an die Konzerne: Wieso habt ihr ursprünglich so viele Kalorien in eure Produkte gesteckt? Und gebt ihr mit dieser Aktion implizit eure Mitverantwortung an der Fettleibigkeitskrise zu?“

Jeder dritte US-Amerikaner ist krankhaft fett. Die Nahrungsmittelkonzerne reagieren mit einer PR-Kampagne auf wachsenden Druck der Öffentlichkeit. Um 1,5 Billionen Kilokalorien wären ihre Produkte seit 2007 leichter geworden. Das sind 14 Kalorien pro Kopf und Tag.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.06.2013)

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