Der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk schlägt sich in einem Artikel auf die Seite der Demonstranten in Istanbul. Der Taksim-Platz, Herzstück des Protests, sei ein besonderer Ort der Erinnerung.
Orhan Pamuk hat auch Bäume gerettet. Damals, schreibt der türkische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger, damals im Jahr 1957, haben er und seine Familie abwechselnd vor dem Kastanienbaum im Istanbuler Nobelviertel Nişantaşı Wache gehalten. Die alte Kastanie sollte einer Straße weichen, aber „anmaßende Bürokraten und selbstgefällige Kommunalpolitiker ignorierten den Widerstand der Nachbarschaft“. Letztlich aber haben die Pamuks und ihre Nachbarn gewonnen. Den Baum gibt es noch.
Pamuk hat diese antik und romantisch anmutende Geschichte in mehreren türkischen und internationalen Zeitungen (z. B. „Hürriyet“ und „Süddeutsche Zeitung“) veröffentlicht. Es ist sein Beitrag zu den seit Tagen andauernden Protesten in Istanbul: Der Taksim-Platz, Herzstück der Protestbewegung, sei dieser Tage die Kastanie von Istanbul, schreibt er. Es sei ein grober Fehler der Regierung Recep Tayyip Erdoğan gewesen, die Istanbuler nicht über den Gezi-Park nahe des Taksim-Platzes befragt zu haben, in dem Bäume abgeholzt werden sollen: „Ihr rücksichtsloses Verhalten spiegelt ihre wachsende Neigung zur autoritären Herrschaft.“
Auch auf dem Taksim-Platz begann alles mit Bäumen, die einem Einkaufszentrum weichen sollten. Die Polizei reagierte auf den kleinen Protest mit Tränengas – und sorgte dafür, dass er über Nacht zu einer Bewegung der Empörten wurde. Im Gegensatz zu Pamuks Kastanienbaum dürfte diese Geschichte keine kurzweilige Erinnerung hinterlassen: Gestern, Donnerstag, kündigte Erdoğan an, dass der Park trotz aller Proteste einem Einkaufszentrum weichen soll. Zudem seien für die Gewalt viele Demonstranten selbst verantwortlich, so Erdoğan. Einige von ihnen seien Extremisten, wenn nicht Terroristen.
Schüsse und Maiaufmärsche
Pamuks Kritik an Erdoğan war erwartbar, manche dürften sich allerdings gewundert haben, warum er sich erst mehrere Tage nach dem Aufflammen der Proteste zu Wort gemeldet hat. Dafür holt Pamuk weit aus und erinnert an die Geschichte des Taksim-Platzes. Hier haben bereits in den 1970er-Jahren politische Demonstrationen stattgefunden, Schüsse fielen, Menschen starben. Der Taksim-Platz ist traditioneller Treffpunkt am 1. Mai, wobei die Maiaufmärsche phasenweise verboten, phasenweise wieder erlaubt werden. „In meiner Jugend verfolgte ich mit Neugier und Freude“, schreibt Pamuk, „wie politische Gruppen aller Art – die Parteien der Rechten und der Linken, Nationalisten, Konservative, Sozialisten – ihre Kundgebungen auf dem Platz abhielten.“ Gerade aufgrund dieser Vergangenheit sei der Taksim-Platz ein besonderer Ort; er könne sich nicht vorstellen, dass irgendjemand in Istanbul keine Erinnerung, keine Verbindung zu diesem Platz hätte. Und es erfülle ihn mit Hoffnung, dass die Menschen in Istanbul ihr Recht, auf diesem Platz zu demonstrieren, einfordern.
Der Artikel Pamuks hat auf den Social-Media-Kanälen schnell Verbreitung gefunden – so auch die vor einigen Tagen veröffentlichte Solidaritätserklärung des amerikanischen Intellektuellen und Linguisten Noam Chomsky. Die Brutalität, mit der die Polizei gegen die Demonstranten vorgegangen ist, gehöre zu den schändlichsten Momenten der türkischen Geschichte, so Chomsky in einer Videoaufnahme. Darin ist er vor einem Plakat mit der Aufschrift „Ich bin auch ein Plünderer aus Solidarität“ zu sehen – ein Seitenhieb auf Erdoğan, der die Protestierenden Plünderer genannt hatte. Im Video sagt Chomsky zudem „Taksim ist überall, Widerstand ist überall“ – auf Türkisch.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.06.2013)