Proteste: Zuckerbrot und Peitsche auf türkisch

TURKET PROTESTE
TURKET PROTESTE(c) EPA (KERIM OKTEN)
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Premier Erdoğan versucht mittels Doppelstrategie, die Protestbewegung zu isolieren: Er ließ den Taksim-Platz räumen – und trifft sich mit Demonstranten.

Istanbul. Mehr als eine Woche nach dem Beginn der landesweiten Protestwelle in der Türkei sind bei der Regierung Erdoğan die Ansätze einer Doppelstrategie zu erkennen. Damit hofft der Ministerpräsident seine politischen Gegner auf den Straßen einzudämmen. Auf der einen Seite spricht Recep Tayyip Erdoğan vom „Ende der Toleranz“ und schickte am Dienstagmorgen die Polizei los, um die Demonstranten vom zentralen Taksim-Platz in Istanbul zu vertreiben. Gleichzeitig versucht die AKP-Regierung, die neue Bewegung zu verstehen und auf politisch verwertbare Elemente hin zu untersuchen. Erdoğan selbst will sich an diesem Mittwoch mit Abgesandten der Protestbewegung treffen.

„Er steht vor einem völligen Rätsel“, sagt der Istanbuler Politologe Ilter Turan über den Ministerpräsidenten. „Er weiß nicht recht, was er tun soll.“ Seit Tagen schwankt Erdoğan zwischen Gesprächsangeboten an gemäßigte Mitglieder der Protestbewegung und wüsten Drohungen. Wie Turan gegenüber der „Presse“ in Istanbul sagte, deutet das Hin und Her darauf hin, dass es innerhalb Erdoğans Partei AKP und in der Regierung unterschiedliche Sichtweisen gibt.

Nur Beschimpfungen nicht ratsam

Dass die AKP und ihr Chef verunsichert sind, liegt nicht zuletzt an der Neuartigkeit der Protestbewegung. Es gibt kein Programm, keine Organisation, nicht einmal prominente Wortführer.

Vergangene Woche traf sich Erdoğans Vizepremier Bülent Arinc zwar mit Vertretern der sogenannten „Taksim-Plattform“, einer Gruppe, die seit Langem gegen das Bauprojekt der Regierung im Gezi-Park kämpft. Doch die allermeisten Demonstranten haben nichts mit der Plattform zu tun.

Der Meinungsforscher Adil Gür weist noch auf eine andere Tatsache hin, die eine Reaktion für die AKP erschwert. „Auch die Kinder von AKP-Wählern haben sich in den letzten Tagen Straßenschlachten mit der Polizei geliefert“, sagte Gür der „Presse“. Für Erdoğhan sei es wenig ratsam, in der Reaktion auf die Protestbewegung immer nur mit Beschimpfungen um sich zu werfen. Nach Ansicht des Demoskopen Gür kann es sich keine politische Kraft in der Türkei erlauben, die neue Protestbewegung falsch einzuschätzen. „Wenn die Politiker die Bewegung nicht richtig verstehen, dann kann das Stimmen kosten“, sagt Gür. Das gelte auch für Erdoğan, der sich nach allgemeiner Einschätzung im kommenden Jahr zum Präsidenten wählen lassen will. Dabei könnte Erdoğan auf Nicht-AKP-Wähler angewiesen sein, sagt Gür.

Deshalb hat Erdoğan mit einem Balanceakt begonnen. Auf der einen Seite zieht er vom Leder, um die Basis bei Laune zu halten und für die Wahlen im kommenden Jahr in Stimmung zu bringen: Im März wählen die Türken neue Lokalparlamente; Mitte kommenden Jahres wird dann ein neuer Präsident gewählt. Der Polizeieinsatz auf dem Taksim-Platz vom Dienstag gehörte dazu: Es war eine Machtdemonstration der Regierung mit Wasserwerfern und Tränengas.

AKP-Studie über Proteste

Auf der anderen Seite nehmen Erdoğan und die AKP-Führung die Protestbewegung näher unter die Lupe. Erdoğan hat nach Berichten der regierungsnahen Presse bei AKP-nahen Soziologen eine Studie der Protestwelle in Auftrag gegeben. „Wir analysieren die Ereignisse der letzten zwei Wochen in allen Dimensionen“, sagte er gestern.

Vizepremier Bülent Arinc sagte, die Regierung brauche jemanden, der sie „aufrüttelt“ und auf Fehler aufmerksam macht. Die seit mehr als zehn Jahren regierende AKP, die von der schwachen Opposition weitgehend in Ruhe gelassen wird, neigt inzwischen selbst nach Meinung von Regierungsmitgliedern zur Arroganz. Erdoğan selbst umgibt sich vorwiegend mit Jasagern. „Er mag es nicht, wenn ihm jemand etwas sagt, was er nicht hören will“, erklärt der Politologe Turan.

Spaltung der Bewegung

Kontakte mit der Protestbewegung könnten der AKP noch einen konkreten Vorteil bringen, sagt Bülent Akarcali, ein früherer Minister in Ankara. Wenn Erdoğan die Naturschützer unter den Demonstranten umwerbe, entspreche das einem Kalkül, meint Akarcali: „Die Regierung will die Umweltschützer von den eher politischen Gruppen in der Bewegung lösen.“

Auf einen Blick

Dienstagfrüh räumte die Polizei den Istanbuler Taksim-Platz, auf dem die Demonstranten ein Zeltlager errichtet hatten. Wieder kam Tränengas zum Einsatz.
Premier Erdoğan
will heute mit Organisatoren der Proteste Gespräche führen. Am Wochenende hat die AKP Kundgebungen in Ankara und Istanbul angesetzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.06.2013)

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