Erdoğan lenkt ein: "Bitte geht nach Hause"

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Der Premier sucht den Kompromiss im Konflikt mit den Demonstranten. Er will den Rechtsstreit um das Bauprojekt im Gezi-Park in Istanbul abwarten.

Istanbul. Im Gezi-Park von Istanbul wird schon seit zwei Wochen viel diskutiert, aber am Freitag gab es noch mehr Debatten als sonst. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hatte den Demonstranten im Park ein neues Angebot vorgelegt und sie noch einmal aufgerufen, den Park zu verlassen. Erdoğans neue Position ist weit entfernt von seiner Haltung vor Ausbruch der Unruhen. Damals tat er die Demonstranten als eine Handvoll „Plünderer“ ab, nun will er ihnen so weit entgegenkommen wie nie zuvor. Dennoch war die Skepsis unter den Parkbesetzern groß.

Erdoğan unterbreitete seine neue Offerte in einem Treffen mit Künstlern und Vertretern der Protestbewegung in Ankara. Schon zuvor hatte er sich mit Demonstranten getroffen, doch diesmal ging er noch einen Schritt weiter. Im Grund genommen ist er jetzt bereit, auf das bis vor Kurzem noch als unabänderlich bezeichnete Bauprojekt in dem Park auf Jahre hinaus zu verzichten.

Das könnte ein Wendepunkt für die landesweite Protestwelle sein. Eine kleine Demonstration gegen Erdoğans Pläne für den Park löste am 31. Mai die schwersten Unruhen seit dem Amtsantritt des Ministerpräsidenten vor zehn Jahren aus. Bei Straßenschlachten in mehreren Landesteilen starben fünf Menschen - vier Demonstranten und ein Polizist. Zuletzt ist am Freitag ein 26-jähriger Demonstrant, der seit dem 1. Juni in einem Krankenhaus in Ankara auf der Intensivstation lag, seinen schweren Verletzungen erlegen. Mehr als 7000 Menschen wurden verletzt.

Skepsis unter den Aktivisten

Am Freitag sagte Erdoğan, er habe die Botschaft der überwiegend jungen Demonstranten verstanden. Die Regierung verpflichtet sich nach seinen Worten, den derzeitigen Rechtsstreit um die auf dem Parkgelände geplante Wiederrichtung einer osmanischen Kaserne aus dem 18. Jahrhundert abzuwarten und bis zu einer endgültigen Klärung den Park nicht anzurühren. Ein Istanbuler Verwaltungsgericht hatte am 31. Mai die Vorbereitungen für das Bauprojekt gestoppt, die Regierung will die Entscheidung anfechten. Sollte der Fall, wie zu erwarten ist, bis vor das Oberste Verwaltungsgericht in Ankara gebracht werden, dürften Jahre ins Land gehen.

Selbst wenn die Gerichte am Ende grünes Licht für das Projekt geben, will Erdoğan das Bauvorhaben durch eine Bürgerbefragung in Istanbul absegnen lassen. Entscheiden sich die Wähler dagegen, will er dies anerkennen. „Was kann ich noch mehr sagen?“ fragte er. „Bitte verlasst den Park und geht nach Hause“, sagte der Ministerpräsident an die Demonstranten im Gezi-Park gerichtet. Wer noch viel länger bleibe, müsse mit „anderen Methoden“ der Behörden rechnen, sprich: der gewaltsamen Räumung des Parks.

Tayfun Kahraman von der Gruppe Taksim Solidarität, der am Treffen mit Erdoğan am Donnerstagabend teilgenommen hatte, sprach von einem „positiven Ergebnis“. Viele Parkbesetzer sagten aber, sie wollten ihre Aktion auf jeden Fall fortsetzen. „Keiner hier geht nach Hause“, betonte die 18-jährige Jusstudentin Özge. Sie traut Erdoğan nicht über den Weg und sorgt sich, dass der Ministerpräsident alle Zusagen ignorieren wird, sobald die Besetzer den Park verlassen haben. „Ich habe Angst, dass wir alles Erreichte wieder verlieren, wenn wir jetzt gehen.“

Manche Bewohner der im Park entstandenen Zeltstadt äußerten sich ähnlich. Ein Demonstrant sprach von taktischen Spielchen Erdoğans. Andere sagten, sie warteten darauf, was Taksim Solidarität zu sagen haben werde. Eine freiwillige Räumung des gesamten Zeltlagers noch am Freitag erschien aber unwahrscheinlich.

Die Möglichkeit eines neuen Gewalteinsatzes der Polizei blieb deshalb bestehen. Die Behörden ließen aber durchblicken, dass sie den Demonstranten noch etwas Zeit zur Entscheidung einräumen wollen. Der Istanbuler Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu sagte nach einer Zusammenkunft mit Demonstranten, die Besetzer sollten ihre Zelte nun allmählich abbrechen. Die Öffentlichkeit solle wieder Zutritt zu dem Park haben – und zwar rechtzeitig für ein „Picknick am Sonntag“.

Interview Soziologin Göle, S. 28

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.06.2013)

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