Türkei: Die Angst vor dem Bürgerkrieg geht um

In den Straßen von Istanbul hängen weiter Tränengasschwaden.
In den Straßen von Istanbul hängen weiter Tränengasschwaden.(c) EPA (EVRIM AYDIN / ANADOLU AGENCY)
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Die Regierung denkt laut über den Einsatz der Armee nach - dabei war ausgerechnet sie es, die den Einfluss des Militärs zurückgedrängt hat. Premier Erdoğan setzt indes weiter auf Härte, doch seine Popularität leidet darunter.

Istanbul. Ist die Türkei wie ein führerloses Fahrzeug auf rasender Talfahrt? Bei einigen Beobachtern im Land macht sich nach der Räumung des Protestcamps im Istanbuler Gezi-Park und den anschließenden schweren Straßenschlachten das Gefühl breit, dass die Dinge immer weiter außer Kontrolle geraten und niemand da ist, der die Lage beruhigen kann. Der Anwalt und Menschenrechtler Orhan Kemal Cengiz schrieb am Montag in der Zeitung „Radikal“, die Türkei komme ihm vor wie ein Auto, dessen Bremsen versagen, dessen Fahrer einen Nervenzusammenbruch erleidet und das in voller Fahrt bergab rast.

Die unnachgiebige Haltung der Regierung verstärkt dieses Gefühl. Vizepremier Bülent Arinç sagte dem Nachrichtensender A Haber, bisher hätten mehr als eine Million Menschen in 78 von 81 Provinzen der Türkei an Protesten teilgenommen. Wenn Polizei und Militärpolizei nicht ausreichten, um die Lage unter Kontrolle zu halten, könnten die Behörden auch die Armee einsetzen.

Versorgung in Armeeeinrichtungen

Bisher hat sich die früher einflussreiche, aber von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan weitgehend entmachtete Armee aus den landesweiten Unruhen herausgehalten. Nach unbestätigten Berichten wurden die Demonstranten stellenweise von den Militärs unterstützt, etwa durch die Versorgung von verletzten Kundgebungsteilnehmern in Armeeeinrichtungen. Am Wochenende waren in Istanbul erstmals Militärpolizisten eingesetzt worden.

Ein größerer Einsatz der Armee auf den Straßen des Landes würde eine neue Dimension der Protestwelle markieren. Außerhalb des Kurdengebietes sind türkische Soldaten seit dem Putsch von 1980 nicht mehr gegen zivile Demonstranten eingesetzt worden. Bundeskanzlerin Angela Merkel zeigte sich bestürzt über die Gewalt in der Türkei und rief die Erdoğan-Regierung auf, Andersdenkende zu respektieren.

Doch die türkische Regierung demonstrierte weiter Härte. Innenminister Muammer Güler kündigte neue gesetzliche Regelungen zur Nutzung sozialer Medien an, weil über Twitter und Facebook Lügen und Hetze verbreitet worden seien. Der konservative Politiker und frühere Arbeitsminister Yaşar Okuyan kritisierte, ein hoher Istanbuler Polizeioffizier habe seine Beamten während des Einsatzes gegen Demonstranten mit Soldaten in einem Krieg verglichen. „Sind eure Mitbürger denn Feinde?“, sagte Okuyan bei einer Pressekonferenz im nordwesttürkischen Yalova. „Das ist eine Mentalität, die die Türkei in den Bürgerkrieg stürzt.“

Mehrere Gewerkschafts- und Berufsverbände riefen für Montag zu Aktionen zur Unterstützung der Protestbewegung auf. In Istanbul sammelten sich am Nachmittag mehrere tausend Kundgebungsteilnehmer, um zum zentralen Taksim-Platz neben dem Gezi-Park zu marschieren. Die Zugänge zum Taksim wurden allerdings von einem starken Polizeiaufgebot blockiert. Demonstranten und Polizei nahmen Verhandlungen auf, Ergebnisse wurde zunächst nicht bekannt.

Erdoğan knöpfte sich unterdessen seine Kritiker in Europa vor. Die Europäer seien „antidemokratisch“, weil sie Unterstützung für eine Protestbewegung geäußert hätten, „die die Freiheit anderer angreift“. Im Gezi-Park ließen die Behörden neue Bäume und Blumen pflanzen – eine bizarr anmutende Botschaft an die Protestbewegung, die Erdoğan eine Betonpolitik vorwirft.

Die türkische Regierung sieht die Unruhen als Manöver ihrer politischen Gegner vor den Kommunal- und Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr. Bisher lief die Taktik des Premiers darauf hinaus, mit harten Worten und Polizeieinsätzen seine konservative Wählerbasis zufriedenzustellen.

Eine nach Ausbruch der Proteste Anfang Juni ausgeführte und am Montag veröffentlichte Meinungsumfrage legt aber nahe, dass Erdoğan mit seiner harten Haltung falsch kalkuliert. Demnach ist die Regierungspartei AKP im Vergleich zum Juni des vergangenen Jahres um elf Prozentpunkte von etwa 46 auf 35 Prozent abgestürzt. Auch Erdoğans Popularitätswerte haben gelitten. Mehr als 54 Prozent der Befragten hatten den Eindruck, dass sich die Regierung zu sehr in das Privatleben einmischt – einer der Hauptkritikpunkte der Protestbewegung. Vergangene Woche haben mehrere Umfragen noch ergeben, dass die AKP bei rund 50 Prozent der Stimmen verharrt. Sollten sich nun Hinweise auf negative Auswirkungen der Regierungshaltung auf die Stimmung bei den Wählern erhärten, wäre das möglicherweise für Erdoğan ein Grund, seine Linie zu ändern und stärker auf die Bewegung zuzugehen: Vielleicht kann der Wähler das bergab rasende Fahrzeug Türkei noch stoppen.

Auf einen Blick

In der Türkei wächst die Angst vor einer Eskalation. Zweieinhalb Wochen nach Beginn der Proteste im Istanbuler Gezi-Park ging die Polizei in der Nacht auf Montag wieder gegen regierungskritische Demonstranten vor.
In Ankara setzten Sicherheitskräfte Wasserwerfer und Tränengas gegen Gegner der islamisch-konservativen Regierung von Ministerpräsident Erdoğan ein.
Vizepremier Bülent Arinç drohte den Demonstranten am Montag sogar mit dem Einsatz der Armee.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.06.2013)

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