Erdoğan und seine Gegner: Abgründe der Intoleranz

Der Regierungschef verliert das Gespür für sein Volk und spaltet die türkische Gesellschaft – auch im Ausland. Muss sich die EU davor schützen?

Es mag ein starkes Stück sein, der türkischen Regierung gerade von Österreich aus Intoleranz vorzuwerfen – gerade von hier, wo neun von zehn die Türken lieber im Orient angesiedelt wissen wollen als in Europa. Bei uns hat das Wort „Toleranz“ im Zusammenhang mit der Türkei an Glaubwürdigkeit eingebüßt, allerdings auch, seit der grüne Bundesrat Efgani Dönmez allen Erdoğan-Anhängern ein „One-Way-Ticket“ in ihre Heimat wünschte. Es gibt eben keine beliebige Toleranz, nur eine allumfassende.

Aber zuerst zurück zum Ursprung des Konflikts, der die türkische Gemeinde nun auch in Österreich spaltet: Recep Tayyip Erdoğan ist – oder besser war – ein Ausnahmepolitiker mit einem ausgeprägten taktischen Gespür und mit Durchsetzungskraft. Er schaffte den historischen Durchbruch für eine stabile Regierung, die ihre Handlungsfähigkeit nutzen konnte. So ist es ihr gelungen, dem Land über zehn Jahre hinaus eine Zukunftsvision zu geben, bisher ungeahnte Reformen durchzusetzen. Erstmals wurde der problematische Einfluss der Armee gebrochen, der Wohlstand deutlich gehoben. Erdoğan ist aber nicht nur ein Reformierer, sondern trotz all seiner Erfolge auch ein sehr schlichter Machtpolitiker geblieben. „Er hat uns alle als Mitglieder seiner Partei betrachtet und wie Kinder behandelt. Er hat die Spannungen von Mehrheit und Vielfalt aus den Augen verloren“, kritisiert der türkische Schriftsteller Murathan Mungan in einem „Zeit“-Interview. Und er trifft damit das Problem punktgenau. Vielfalt bedingt Toleranz, und die gibt es in der türkischen Staatsführung nicht.

Erdoğans politisches Gespür ist heute nur noch auf die eigene – zweifellos große – Anhängerschaft begrenzt. Diese bedient er mit Wohlstand, Sicherheit und traditionell moslemischen Werten. Für sie verdammt er Alkohol und unterstützt das Kopftuchtragen. Jene junge und kritische türkische Gesellschaft aber, die sich im Gezi-Park in Istanbul zu einer Protestbewegung formiert hat, die sieht er einzig und allein als Störfaktor seiner Macht. Der türkische Regierungschef hat für sie keine Antworten gefunden, weil er ihnen auch nicht zuhören wollte. Seine einzige Antwort ist polizeiliche Gewalt. Erdoğan hat sich zu einem sturen, selbstverliebten Autokraten entwickelt, der den Draht zu einem Teil seiner Bevölkerung verloren hat. Das Ärgernis darüber kompensiert er nun alle paar Tage mit einem Bad in der Menge seiner Anhänger. Er sucht förmlich die Polarisierung und erkennt nicht, dass sich in dem Spalt, der sich bereits durch weite Teile der türkischen Gesellschaft zieht, sein eigener Abgrund auftut.

Der Protest im Gezi-Park ist ein Symbol für die Endlichkeit von Erdoğans Übermacht geworden. Dabei war es bloß ein relativ kleines Bedürfnis dieser Menschen, das plötzlich so große Bedeutung gewann: ein grüner Park. Diese Menschen mit „Terroristen“ zu vergleichen, wie es Europaminister Egemen Bağis getan hat, ist nur ein Beleg dafür, wie es um die innere Toleranz in der Türkei bestellt ist.

Die Heftigkeit, mit der dieser Konflikt von Türken auch außerhalb des Landes ausgetragen wird, bringt nicht nur einen Imageschaden für Ankara. Diese in die EU exportierte Kontroverse ist vielmehr ein Fingerzeig darauf, dass die Türkei die Reife für eine demokratische, laizistische Zukunft noch nicht erreicht hat. Es ist erschreckend, wie rasch alten Fronten neu aufgebrochen sind. Zerstört wird eben jene innere Stabilität, die Erdoğan als Mitgift für den EU-Beitritt versprochen hat.

Es mag sein, dass EU-Länder wie Österreich nie eine ausreichende Toleranz gegenüber der Türkei entwickelt haben. Heute aber beweist die türkische Führung rund um Erdoğan selbst, dass sie das Nebeneinander von Ideen, Ideologien, Religionen nicht ermöglichen will. Angesichts der Bedeutung einer geplanten Integration von 78 Millionen Türken in die Europäische Union ist das kein nebensächliches Faktum.

Die EU hat nach so langen Verhandlungen mit Ankara die Verantwortung, den Wandel in der Türkei zu ermöglichen. Sie hat aber auch das Recht, sich vor dem Überschwappen einer Instabilität zu schützen. Die Beitrittsverhandlungen auszusetzen ist aus diesen beiden Gründen notwendig.

E-Mails an: wolfgang.boehm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2013)

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