Türkei verspielt Chance auf eine EU-Mitgliedschaft

The shadow of protesters is casted on a Turkish national flag during a rally in support of Turkish Prime Minister Erdogan in Tirana
The shadow of protesters is casted on a Turkish national flag during a rally in support of Turkish Prime Minister Erdogan in TiranaREUTERS
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Über 50 Jahre dauert der Annäherungsprozess der Türkei an den europäischen Kontinent. Ein EU-Beitritt rückt in weite Ferne.

Wien/Ankara/Brüssel. Das Jahr hat gut begonnen für Recep Tayyip Erdoğan. Als – noch – unangefochtener Premier einer wirtschaftlich aufstrebenden Nation stellte er der kriselnden EU im Jänner selbstbewusst die Rute ins Fenster. Entweder der Beitrittsprozess seines Landes beschleunige sich, drohte er, oder die Türkei werde sich nach Asien orientieren und den „Shanghai Five“ – einer Organisation von China, Russland und den zentralasiatischen Staaten – beitreten.

Die EU gehorchte brav. Schon wenige Wochen nach Erdoğans Drohung mehrten sich in Brüssel, Paris und Berlin Stimmen, noch im ersten Halbjahr 2013 ein weiteres Verhandlungskapitel zu eröffnen. Dadurch angespornt reiste Ratspräsident Herman Van Rompuy Ende Mai nach Ankara, um den verstimmten Premier persönlich zu Gesprächen in die europäische Hauptstadt einzuladen. Die irische Ratspräsidentschaft drängte darauf, ab 26. Juni nach jahrelangem Stillstand in den Gesprächen mit Ankara ein weiteres Kapitel – jenes zur Regionalpolitik – zu verhandeln.

Entsetzen und Verärgerung

Seit Anfang Juni sind die Stimmen für eine baldige Fortführung der Beitrittsgespräche verstummt. Das brutale Vorgehen der Regierung gegen Demonstranten auf dem Istanbuler Taksim-Platz löste eine landesweite Protestbewegung aus, die der Premier gewalttätig niederschlagen lässt. Bilder von Polizisten, die mit Wasserwerfern friedliche Demonstranten vertreiben, lösten in Europa Entsetzen und Verärgerung aus. Nur kurz machte es den Anschein, als würde Erdoğan doch einlenken – dann aber drohte er sogar mit dem Einsatz der Armee.

Die europäischen Entscheidungsträger müssen sich die Frage gefallen lassen: Darf man mit einem Mann verhandeln, der vor derartigen Methoden nicht zurückschreckt?

Die Alarmglocken schrillen ohnehin allerorten. Die von Irland angestrebte Fortsetzung der Beitrittsgespräche ist bereits geplatzt. Deutschlands Außenminister Guido Westerwelle, der noch vor Kurzem für eine Beschleunigung des Beitrittsprozesses eingetreten war, hatte zuletzt erhebliche Zweifel an diesem Schritt angemeldet – wenngleich er sich wie Michael Spindelegger einen Dialog über Fragen der Grundrechte und Justiz mit Ankara vorstellen kann. Durch die Eröffnung des betreffenden Kapitels 23 könne man die Finger in die Wunde legen und die Problematik formal auf den Tisch der Verhandlung bringen, meint Spindelegger. Der Außenminister erwartet von Brüssel klare Worte zum Vorgehen des türkischen Premiers. Gleichzeitig will er eine Fortführung der Gespräche nicht ausschließen: Nur so, heißt es aus dem Ministerium, werde sich die Türkei EU-Standards anpassen. Angesichts der großen Skepsis mehrerer EU-Partnerländer – neben Deutschland hegen auch Italiens Außenministerin Emma Bonino und ihr französischer Amtskollege Laurent Fabius neuerdings wieder große Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer baldigen Annäherung – ist dieses Vorhaben in die weite Ferne gerückt. Umso mehr, als für die Eröffnung jedes Beitrittskapitels unter allen EU-Mitgliedstaaten Einstimmigkeit erforderlich ist.

Schon bisher verlief der über ein halbes Jahrhundert dauernde Annäherungsprozess der Türkei an Europa schleppend. Im Jahr 1959 beantragte Ankara die Assoziierung mit der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und suchte 1987 um Mitgliedschaft an. 1996 wurde die Türkei Mitglied der Zollunion. Drei Jahre später schließlich gewährten die EU-Staats- und Regierungschefs dem Land den Status eines Beitrittskandidaten.

Nur ein Kapitel abgeschlossen

Gleichzeitig mit Kroatien wurden 2005 schließlich die Beitrittsverhandlungen gestartet. Bisher konnte jedoch lediglich eines von insgesamt 35 Kapiteln – jenes der Wissenschaft und Forschung – abgeschlossen werden.

Wegen des ungelösten Zypern-Konflikts hat die EU schon 2006, also nur ein Jahr nach Beginn der Verhandlungen, acht zentrale Kapitel auf Eis gelegt: jene zum freien Warenverkehr, Niederlassungsrecht und freien Dienstleistungsverkehr, zu Finanzdienstleistungen, Landwirtschaft, Fischerei, Verkehr, Zollunion sowie Außenbeziehungen. Dennoch weigert sich die Türkei weiter beharrlich, das Freihandelsprotokoll mit der geteilten Mittelmeerinsel anzuwenden.

Angesichts des mühsamen Beitrittsprozesses macht sich in der Bevölkerung der Türkei – das Land hat 75 Millionen Einwohner – EU-Skepsis breit. Die Befürworter eines baldigen Beitritts zur europäischen Staatengemeinschaft sind mittlerweile in der Minderzahl: Nur noch 33 Prozent sprechen sich für einen solchen Schritt aus. Zu Beginn der Beitrittsgespräche sind es hingegen noch 70 Prozent gewesen.

Auf einen Blick

Die Türkei hat seit 1999 den Status eines offiziellen Beitrittskandidaten der Europäischen Union. Im Jahr 2005 wurden – gleichzeitig mit Kroatien – die Beitrittsverhandlungen eröffnet. Bisher konnte aber lediglich eines von insgesamt 35 Kapiteln – jenes der Wissenschaft und Forschung – abgeschlossen werden. Acht zentrale Verhandlungskapitel liegen wegen des ungelösten Zypern-Konflikts seit 2006 überhaupt völlig auf Eis, darunter jenes zum freien Warenverkehr sowie zu den Außenbeziehungen.

Im ersten Halbjahr 2013 sollte nach jahrelangem Verhandlungsstillstand eigentlich das Kapitel zur Regionalpolitik eröffnet werden. Dies ist nun aber mehr als fraglich. Mehrere gewichtige Länder wie Deutschland und Frankreich, aber auch Österreich haben angesichts der brutalen Niederschlagung der Protestbewegung in Istanbul Bedenken angemeldet.

Wegen der schleppenden Verhandlungen ist auch die EU-Euphorie in der Türkei zuletzt stark gesunken.

Lexikon

Wo endet die EU? Geografisch gibt es eindeutige Grenzen Europas. Doch sowohl politisch als auch kulturell verschwimmen diese Abgrenzungen. Im Süden liegt nur ein kleiner Teil der Türkei auf dem europäischen Kontinent. Im Osten würde selbst Russland als Mitglied infrage kommen, da ein Teil des Staates zu Europa gehört. Doch bereits im Fall der Ukraine wird deutlich, dass auch hier eine politische Kultur besteht, die mit der Europäischen Union derzeit nicht kompatibel ist.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.06.2013)

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