Proteste in Türkei: Nelken gegen Wasserwerfer

Proteste Tuerkei Nelken gegen
Proteste Tuerkei Nelken gegen(c) EPA (SEDAT SUNA)
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Bei neuen Protesten wurde wieder der Taksim-Platz geräumt, die Polizei setzte Tränengas ein. Der Premier verliert zunehmend an Popularität - und könnte deshalb bald vom harten Kurs abweichen, so Experten.

Istanbul. Als sich Samstagabend tausende Menschen auf dem Istanbuler Taksim-Platz versammelten, um den Todesopfern der Unruhen der vergangenen Wochen zu gedenken, wurde rasch deutlich, dass in der türkischen Metropole nach knapp einwöchiger Ruhe neue Auseinandersetzungen drohten: Die Wasserwerfer der Polizei warteten schon. Die Demonstranten warfen rote Nelken und blieben friedlich. Nach etwas mehr als einer Stunde ordnete die Polizei per Lautsprecher an, den Platz sofort zu räumen. Zwanzig Minuten später kamen die Wasserwerfer zum Einsatz – und auch Tränengas.

„Inakzeptabel“ sei das Verhalten der Polizei gewesen, kritisierte die Gruppe „Taksim-Solidarität“, ein Dachverband der Protestbewegung. Die Regierung habe eine friedliche Kundgebung „erneut mit Gewalt beantwortet“. Die Behörden hatten eine merkwürdige Begründung parat: Die Demonstranten hätten den Straßenverkehr auf dem Platz behindert, sagte Gouverneur Hüseyin Avni Mutlu.

2,5 Millionen Demonstranten

Insgesamt hat die türkische Polizei in den vergangenen drei Wochen so viel Tränengas verbraucht wie sonst in zwei Jahren, so die Zeitung „Hürriyet“. Bisher nahmen 2,5 Millionen Menschen an Protestkundgebungen teil, fast 5000 wurden festgenommen, fünf Menschen starben, 8000 wurden verletzt. Experten und Menschenrechtler fordern eine gründliche Untersuchung der Ereignisse – bis heute weiß niemand, wer die Order für den Polizeieinsatz im Gezi-Park am 31. Mai gab, der die Proteste auslöste. Dabei sei eine Aufarbeitung wichtig für das Vertrauen der Menschen in die Sicherheitskräfte, sagte Halil Ibrahim Bahar, Professor an der Polizeiakadamie in Ankara, zur „Presse“.

Bisher haben die Behörden vier Polizeibeamte und vier Angestellte des Istanbuler Ordnungsamtes wegen mutmaßlicher Vergehen im Zusammenhang mit den Protesten vom Dienst suspendiert. Zudem ermittelt die Staatsanwaltschaft in Ankara wegen des Todes eines Demonstranten. „Diese Einzelmaßnahmen reichen nicht“, sagt Emma Sinclair-Webb von Human Rights Watch. Sie fordert eine Überprüfung der Polizeitaktik.

Doch Premier Recep Tayyip Erdoğan ist im Wahlkampfmodus und zeigt kein Interesse an einer Aufarbeitung von Fehlern. Er nimmt sogar Krach mit der EU und dem Haupthandelspartner Deutschland in Kauf. Erdoğan selbst hat die Polizei mehrfach gegen Kritik in Schutz genommen.

Mit seiner harten Linie wolle Erdoğan seine eigene Position in der regierenden AKP festigen und seine Partei auf kommende Wahlkämpfe einstimmen, sagte Politikwissenschaftler Mansur Akgün zur „Presse“. Zugleich wolle der Premier religiöse Kreise der Gesellschaft beruhigen, die sich von den vorwiegend säkularen Demonstranten bedroht fühlten. „Doch Erdoğans harter Kurs ist nicht in Stein gemeißelt.“ Sollte der Premier feststellen, dass seine Linie für die AKP kontraproduktiv sei, werde er das Ruder herumreißen. Erste Hinweise darauf, dass die AKP in der Wählergunst zurückfalle, gebe es bereits. Dazu Akgün: „Erdoğan ist extrem pragmatisch.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2013)

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