1875: „Marie, du bist so schön, wie die Sünde"

Literaturentdeckung. Im November 1875 veröffentlichte die „Neue Freie Presse" eine bis dahin unbekannte Fassung von Georg Büchners Drama „Woyzeck", kommentiert von Karl Emil Franzos. Das Stück wurde hier zum „Wozzeck".

[3., 5. und 23. November 1875] 1875 hat der Schriftsteller und Publizist Karl Emil Franzos handschriftliche Texte aus dem Nachlass Georg Büchners entziffert (er habe „die schlechteste Handschrift geschrieben, die sich eine recht starke Einbildungskraft ausmalen kann") und im November des Jahres in der „Neuen Freien Presse" veröffentlicht. „In der Tat sind auch die wertvollsten Stücke des Nachlasses die poetischen", schreibt Franzos. „Es ist dies vor allem ein bisher bis auf den Namen unbekannt gebliebenes und als verloren beklagtes Werk: das Trauerspielfragment ,Wozzeck‘. Eine seltsame, bizarre, aber hochinteressante und geniale Dichtung, welche neuerdings das Weh weckt, dass diesem Genie keine längere Lebenszeit gegönnt gewesen."

Wozzeck ist in Mariens Stube geeilt, er will die Wahrheit wissen, und er erfährt sie:

Wozzeck (sieht Marien starr an und schüttelt den Kopf): Hin! ich seh' nichts, - o! man müsst' 's sehen, man müsst' 's greifen können mit Fäusten!

Marie: Was hast, Franz?

Wozzeck (wie früher): Bist du's noch, Marie?! Eine Sünde, so dick und breit, dass müsst' stinken, dass man die Engelchen zum Himmel hinausräuchern könnt' . . . Du hast einen rothen Mund, Marie, einen rothen Mund und keine Blase d'rauf?

Marie: Du bist hirnwüthig, Franz!

Wozzeck: Du bist schön, wie die Sünde. Aber kann die Todsünde so schön sein? (Auffahrend): Da, da hat er gestanden - so?

Marie: Ich kann den Leuten die Gasse nicht verbieten.

Wozzeck: Teufel, hat er da gestanden?

Marie: Dieweil der Tag lang und die Welt alt ist, können viel Menschen an einem Platz stehen, einer nach dem andern.

Wozzeck: Ich hab' ihn gesehen . . .


Marie: Man kann viel sehen, wenn man zwei Augen hat und wenn man nicht blind ist und wenn die Sonn' scheint -

Wozzeck: Du bei ihm!

Marie (keck): Und wenn auch!

Wozzeck (geht auf sie los): Weib!
Marie: Rühr' mich nicht an! Lieber ein Messer in den Leib, als eine Hand auf mich! Mein Vater hat's nicht gewagt, wie ich zehn Jahre alt war!

Wozzeck (sieht sie starr an, lässt langsam die Hand sinken): Lieber ein Messer. (Nach einer Pause, scheu flüsternd:) Lieber ein Messer . . . Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt Einem, wenn man hinunterschaut . . . Mich schwindelt . . .

Neue Szene
Waldweg am Teich. Es dunkelt.
Wozzeck, Marie.

Marie: Dort links geht's in die Stadt. 'S ist noch weit. Komm' schneller.

Wozzeck: Du sollst dableiben, Marie. Komm, setz' dich!
Marie: Aber ich muss fort.

Wozzeck: Komm'. (Sie setzen sich.) Bist weit gegangen, Marie, sollst dir die Füße nicht mehr wund laufen. 'S ist still hier! Und so dunkel . . . Weißt noch, Marie, wie lang es jetzt ist, dass wir uns kennen?


Marie: Zu Pfingsten drei Jahr.


Wozzeck: Und was meinst, wie lang' es noch dauern wird?


Marie (springt auf): Ich muss fort.


Wozzeck: Fürchst dich, Marie? Und bist doch fromm! (Lacht.) Und gut! Und treu! (Zieht sie wieder auf den Sitz.) Fürchst dich? - Was du für süße Lippen hast, Marie! (Küsst sie.) Den Himmel gäb' ich drum um die Seligkeit, wenn ich dich noch oft so küssen dürft'! Aber ich darf nicht! Was zitterst?

Marie: Der Nachtthau fällt.

Wozzeck (flüstert für sich): Wer kalt ist, den friert nicht mehr. Dich wird beim Morgenthau nicht frieren. - Aber mich! Ach! es nützt nichts, es muss doch sein! . . .

Marie: Was sagst du da?

Wozzeck: Nix. (Langes Schweigen.)

Marie: Wie der Mond roth aufgeht!

Wozzeck: Wie ein blutig Eisen! (Zieht ein Messer.)

Marie: Was zitterst so? (Springt auf.) Was willst?

Wozzeck: Ich nicht, Marie, aber auch kein Anderer nicht. (Stößt ihr das Messer in den Hals.)
Hilfe! Hilfe! (Sie sinkt nieder.)

Wozzeck: Todt! (Beugt sich über sie.) Todt! (Nach einer Pause, gellend:) Mörder! (Stürzt davon.)

Karl Emil Franzos (1848–1904) war ein zu seiner Zeit sehr populärer österreichischer Schriftsteller und Publizist.

("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)

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