1896: Strahlen durch die Weichteile

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Wissenschaft. Unter dem Titel „Eine sensationelle Entdeckung“ meldete „Die Presse“ als erste Zeitung des Erdenrunds den Fund der Röntgenstrahlen.

[5. Jänner 1896] In den gelehrten Fachkreisen Wiens macht gegenwärtig die Mitteilung von einer Entdeckung, welche Professor Routgen (sic!) in Würzburg gemacht haben soll, große Sensation. Wenn sich dieselbe bewährt, wenn die hierauf begründeten Mitteilungen sich als begründet erweisen, so hat man es mit einem in seiner Art epochemachenden Ergebnis der exakten Forschung zu tun, das sowohl auf physikalischem wie auf medizinischem Gebiete ganz merkwürdige Konsequenzen bringen dürfte. Wir hörten hierüber:

„Professor Routgen nimmt eine Crookes'sche Röhre – eine sehr stark ausgepumpte Glasröhre, durch die ein Induktionsstrom geht – und fotografiert mithilfe der Strahlen, welche diese Röhre nach außen hin aussendet, auf gewöhnlichen fotografischen Platten. Diese Strahlen nun, von deren Existenz man bisher keine Ahnung hatte, sind für das Auge vollständig unsichtbar; sie durchdringen, im Gegensatz zu gewöhnlichen Lichtstrahlen, Holzstoffe, organische Stoffe und dergleichen undurchsichtige Körper. Metalle und Knochen hingegen halten die Strahlen auf. Wie die gewöhnlichen Lichtstrahlen durch Glas gehen, so gehen diese neu entdeckten von den Crook'schen Röhren ausströmenden Strahlen durch Holz und auch durch Weichteile des menschlichen Körpers. Am überraschendsten ist nämlich die durch den erwähnten fotografischen Prozess gewonnene Abbildung von einer menschlichen Hand. Das Bild enthält die Knochen der Hand, um deren Finger die Ringe frei zu schweben scheinen. Die Weichteile der Hand sind nicht  sichtbar.“

Es ist angesichts einer so sensationellen Entdeckung schwer, fantastische Zukunftsspekulationen im Stile eines Jules Verne von sich abzuweisen. Der Arzt könnte dann zum Beispiel die Eigenart eines komplizierten Knochenbruches ganz genau kennenlernen ohne die für den Patienten schmerzliche manuelle Untersuchung; der Wundarzt könnte sich über die Lage eines Fremdkörpers, einer Kugel, eines Granatensplitters im menschlichen Leibe viel leichter als bisher unterrichten. Wir gestehen, dass dies alles überkühne Zukunftsfantasien sind. Aber – wer am Anfang dieses Jahrhunderts gesagt hätte, das Enkelgeschlecht werde mithilfe eines elektrischen Apparates Zwiegespräche über den großen Ozean hin und wider führen können, hätte sich auch dem Verdachte ausgesetzt, dem Irrenhause entgegenzureisen. Wir wollten nur beiläufig andeuten, nach welcher Richtung hin des Würzburger Gelehrten sensationelle Entdeckung neuartige Perspektiven eröffnen kann.

Der Autor des nicht gezeichneten Artikels war wohl K. Lecher, er hatte Kontakt zu Physikern.

("Die Presse", 165 Jahre Jubiläumsausgabe, 29.06.2013)

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